09-Die Pfade des Schicksals
Feindseligkeit gegenüber den Meistern machte seine Einschüchterung wett. »Ihr habt klargemacht, dass ihr euch nur dem Zeitenherrn verpflichtet fühlt. Warum behindert ihr die Ring-Than bei einem Versuch, der ihn ebenso retten kann wie uns?«
»Spätere Ereignisse …«, begann Clyme.
»… könnt auch ihr nicht voraussehen, Haruchai«, warf der Eifrige unerwartet ein. »Die Lady wünscht ihren Sohn zu befreien. Welche sonstige Rechtfertigung für ihr Tun verlangt ihr noch?«
»Spätere Ereignisse«, wiederholte Clyme, »werden vielleicht zeigen, dass die Lady, wie du sie nennst, ihre Entweihung fortsetzen will. Hat die Mahdoubt nicht unter Einsatz ihres Lebens dafür gekämpft, die Kapitulation zu verhindern, die Linden Avery jetzt plant?«
»Schluss jetzt!« Linden schlang die Arme um ihren Oberkörper, um nicht sichtbar zu zittern. »Ich werde nicht kapitulieren. Tue ich das, sehe ich Jeremiah nie wieder. Dann bleibt nichts von mir übrig.«
Auf alles andere hatte sie bereits verzichtet.
»Zügelt euren Stolz«, forderte Stave die Gedemütigten auf. Das klang distanziert und uninteressiert, aber die Lichtreflexe in seinem Auge erweckten den Eindruck, als lachte er leise. »Keine Tat, kein Wagnis der Auserwählten kann das Gewicht der Anwesenheit des Zweiflers oder eurer Treue zu ihm mindern. Im Guten wie im Bösen bleibt er Ur-Lord Thomas Covenant, der Zweifler. Und hat er euch nicht befohlen, sie gewähren zu lassen? Solange ihr keine andere Anweisung habt, dient ihr ihm schlecht, wenn ihr euch gegen seine Wünsche aussprecht.«
Falls die Gedemütigten über Staves Ratschlag oder ihre eigenen Verpflichtungen diskutierten, taten sie es schweigend. Jedenfalls erhoben sie keine weiteren Einwände.
»Also gut.« Linden gab sich keine Gelegenheit, noch länger zu zögern. Auch wenn ihr nicht leicht schwindlig wurde wie Covenant, lauerten in den Tiefen der Höhle trotzdem unzählige Schrecken. Hätte sie sich die Zeit genommen, über sie nachzudenken …
»Bleibt hier«, forderte sie daher ihre Freunde auf. »Kommt erst nach, wenn ihr seht, dass ich - oder der Egger - Erfolg gehabt haben. Es hat keinen Zweck, dass ihr schon jetzt etwas riskiert. Und ich glaube nicht, dass Krill oder Orkrest hier viel nützen können.«
»Mach dir um uns keine Sorgen«, antwortete Kaltgischt trocken. »Niemand von uns will in dieser Schreckenskluft den Tod finden.«
»Gut.« Linden nickte, mehr um sich selbst Mut zu machen, als Zustimmung auszudrücken. »Solange Liand die schlimmsten Auswirkungen von Kevins Schmutz zurückdrängt, könnt ihr vermutlich von hier aus verfolgen, was dort drüben passiert.«
Während ihre Gefährten warteten und zusahen, atmete Linden tief durch und setzte sich in Richtung Brücke in Bewegung. Als Stave Anstalten machte, sie zu begleiten, schickte sie ihn nicht zurück.
Aus ihrer angstvoll zögerlichen Perspektive wirkte die Brücke - das Wagnis - schmaler und weniger massiv als beim ersten Anblick. Für ihren Bau haben sie alles riskiert. Wer sie waren. Wie sie sich selbst sahen. Genau wie Linden alles riskierte. Und die Decke der gewaltigen Höhle ragte dräuend wie Gewitterwolken über ihr auf. Hell-dunkel-Reflexe huschten einem Wetterleuchten gleich über die Stalaktiten, und jeder dieser mächtigen nassen Tropfsteine war schwer genug, um die Brücke zu zerschmettern, wenn er abbrach und auf sie fiel.
Stave ging so dicht neben ihr, dass ihre Schultern einander streiften. Trotz ihrer Angst um ihn - um alle ihre Gefährten - begrüßte Linden den Beistand, den seine übermenschliche Stärke, seine scharfen Sinne ihr gewährten. Seine unbedingte Loyalität konnte eine wertvolle Stütze sein, wenn oder falls ihre Ängste sie zu lähmen drohten.
Eigentlich ganz leicht, versicherte Linden sich selbst, als sie und der ehemalige Meister gemeinsam den Bogen des Wagnisses betraten. Ein kurzer Weg, kaum zweihundert Schritte lang. Ließ sie ihren Blick auf die gegenüberliegende Felswand gerichtet, ohne in die Tiefe zu sehen … Trotzdem schien der schwarze Abgrund nach ihr zu greifen, als wollte er sie von der Brücke reißen. Und die Finsternis schien zu leben.
Linden konnte noch immer die gespannte Aufmerksamkeit ihrer Freunde hinter sich spüren; nur Covenant ließ nicht erkennen, ob er merkte, was sie tat. Aber sie entfernte sich mit jedem Schritt weiter von Liand und dem Licht. Als das Leuchten seines Sonnensteins abnahm, wurde auch ihr Gesundheitssinn schwächer. Bald würde sie ihre
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