09 - Vor dem Tod sind alle gleich
Fragen gestellt? Nein, das hat man nicht.
Weiter sagt Fial, sie habe dort unten am Kai in der Dunkelheit gesehen, wie ein Mann ihre Freundin überfiel und erdrosselte. Sie kann nur einen Meter vom Schauplatz entfernt gewesen sein. Was tut sie bei diesem Anblick? Sie bleibt einfach bei den Ballen stehen und sieht zu, wie ihre Freundin angegriffen und erwürgt wird. Sie sieht, wie der Mann zur Abtei zurückläuft und hineingeht. Das alles im Dunkeln. Sie steht da und weiß nicht, was sie machen soll – wie lange, das erfahren wir nicht. Wir können sie auch nicht danach fragen, denn Schwester Fial ist anscheinend aus der Abtei verschwunden. Sie steht da und macht keine Anstalten, zu ihrer Freundin zu gehen. Die Äbtissin kommt dazu, und sie bleibt immer noch stumm im Schatten, während Mel die Leiche untersucht. Erst nach langer Zeit tritt sie vor und erzählt ihre Geschichte.«
Fidelma hielt inne. Tiefes Schweigen war eingetreten.
»Dann haben wir noch die Aussage von Mel, dem Hauptmann der Wache, der zum Kai kommt und sieht, wie Äbtissin Fainder dort zu Pferde hält und auf die Leiche hinabschaut. Zu keinem Zeitpunkt wurde die Äbtissin aufgefordert, zu ihrer Rolle in dem Fall auszusagen. Sie weist Mel auf die Leiche hin. Dann übernehmen Mel und sein Kamerad Daig den Fall und hören später von Fial, unserer verschwundenen Zeugin, daß sie in dem Täter den angelsächsischen Mönch, der sich in der Abtei aufhält, erkannt habe.
Eadulf wird im Bett liegend aufgefunden. Entgegenkommenderweise hat er ein Stück der blutgetränkten Kutte des ermordeten Mädchens bei sich im Bett und macht keinen Versuch, es zu verstecken.«
Forbassach lächelte verbissen.
»Ich glaube, damit hast du deine eigenen Argumente widerlegt, dálaigh. Es ist klar erwiesen, daß der Angelsachse mit blutbefleckter Kleidung im Bett lag und daß daraus seine Schuld unwiderleglich hervorgeht.«
»Ich meine, daß die Unregelmäßigkeiten schwerer wiegen als die Beweise und daß diese Unregelmäßigkeiten aufgeklärt werden müssen, bevor die Blutflecke berücksichtigt werden. Ich habe bereits von den Umständen seiner Festnahme gesprochen, die, das wiederhole ich, nicht dem Gesetz entsprechen. Er wird in der Abtei festgehalten. Wir kennen das Ergebnis. Was wir nicht wissen, ist, wie die verschwundene Zeugin Fial den angelsächsischen Bruder identifizierte. Woher weiß sie überhaupt, daß er ein angelsächsischer Bruder ist, wenn Bruder Eadulf, wie er sagt, das Mädchen nicht ein einziges Mal gesehen hat, als er in die Abtei kam. Er redete mit wenigen Leuten – mit der Äbtissin, Schwester Étromma und mit einem Bruder namens Ibar. Nur sie wußten, daß er Angelsachse ist, denn er spricht ein ausgezeichnetes Irisch. Niemand hat das Mädchen gefragt, wie es den Angelsachsen in der Dunkelheit erkennen konnte. In diesem Fall gibt es zu viele Fragen, die nicht gestellt und schon gar nicht beantwortet wurden.«
Fidelma hielt kurz inne, als wolle sie Atem schöpfen.
»Aus diesen Gründen, Brehon von Laigin, wende ich mich direkt an dich mit dem Ersuchen, das Urteil über Bruder Eadulf so lange auszusetzen, bis eine ordentliche, unparteiische Untersuchung und eine faire, gerechte Verhandlung stattgefunden haben.«
Bischof Forbassach wartete einen Moment, als gebe er ihr Gelegenheit fortzufahren, und dann fragte er scharf: »Hast du noch weitere Gründe vorzubringen, dálaigh von Cashel?«
Fidelma schüttelte den Kopf. »In Anbetracht der kurzen Zeit, die man mir gewährt hat, ist das alles, was ich im Augenblick vorbringen kann. Ich meine, es sollte genügen, die Hinrichtung um wenigstens einige Wochen aufzuschieben.«
Bischof Forbassach beriet sich eilig im Flüsterton mit Fianamail. Fidelma wartete geduldig. Der Bischof wandte sich wieder ihr zu.
»Ich werde meine Entscheidung morgen früh verkünden. Wenn ich allerdings«, er blickte Fianamail mürrisch an, »allein zu entscheiden hätte, würde ich sagen, die Berufung ist abgelehnt.«
Obwohl sonst so selbstbeherrscht, trat Fidelma einen Schritt zurück, als hätte sie jemand vor die Brust gestoßen. Sie mußte sich zwar eingestehen, daß sie von Anfang an geahnt hatte, Bischof Forbassach wolle sein ursprüngliches Urteil aufrechterhalten. Trotzdem hatte sie gehofft, er werde, um den Schein zu wahren, die Hinrichtung um ein paar Tage verschieben. Offensichtlich lag Fianamail mehr daran, sich an die leere Form der Rechtsprechung zu klammern, als Forbassach. Auf die Vorführung einer so
Weitere Kostenlose Bücher