09 - Vor dem Tod sind alle gleich
hätten beantwortet werden müssen, und jetzt… jetzt scheint es zu spät dazu zu sein. Geh ins Gasthaus zurück, Dego. Ich werde dich und Enda bald dort treffen.«
Langsam schritt sie durch die Stadt auf die Abtei zu, von düsteren Gedanken bedrückt. Sie wußte nicht, was sie Eadulf sagen sollte. Es konnte nur die Wahrheit sein. Sie hatte das Gefühl, völlig versagt zu haben. Sie zweifelte nicht daran, daß Bischof Forbassach trotz Fianamails Versuch, sich diplomatisch zu geben, die Berufung ablehnen werde. Die herausfordernde Art, in der er auf alle ihre Fragen reagiert hatte, zeigte deutlich, daß er darauf aus war, den Forderungen der Äbtissin Fainder nach Anwendung dieser grausamen neuen Strafen nachzukommen.
Wenn sie nur mehr Zeit hätte! Die Beweise enthielten zu viele unglaubwürdige Stellen. Doch Bischof Forbassach gab sich anscheinend keine Mühe, dem nachzugehen. Zeit! Darauf lief alles hinaus. Und wenn morgen die Sonne im Zenit stand, sollte das Leben ihres guten Freundes und Gefährten ausgelöscht werden, weil sie keinen Erfolg gehabt hatte.
Während sie sich den Toren der Abtei näherte, war sie entschlossen, sich nicht anmerken zu lassen, daß sie die Zuversicht verloren hatte. Schließlich konnte schon irgendein kleiner Zufall eine Verzögerung bewirken. Trotzig hob sie das Kinn.
Als Schwester Étromma das Tor öffnete, sah sie seltsam ängstlich aus. Sie hatte die Halle des Königs verlassen und war in die Abtei zurückgeeilt, sobald Bischof Forbassach seine Meinung verkündet hatte.
»Es tut mir leid, Schwester. Ich konnte nur die Wahrheit sagen. Du standest wirklich mit dem Rükken zu mir, als du diese Gegenstände fandest, und ich konnte nicht schwören, ich habe gesehen, wie du sie aus dem Versteck holtest. Bischof Forbassach stellte so scharfe Fragen…«
Mit einer Handbewegung beruhigte Fidelma die besorgte Verwalterin. Sie gab ihr keine Schuld. Hätte sie Fidelma unterstützt, hätte Bischof Forbassach zweifellos einen anderen Weg gefunden, die Beweisstücke zurückzuweisen.
»Es war nicht dein Fehler, Schwester. Außerdem ist ja noch keine Entscheidung verkündet worden«, antwortete Fidelma in möglichst gleichmütigem Ton.
Schwester Étromma schaute nicht weniger bestürzt drein.
»Aber du weißt doch sicher, daß das Urteil längst feststeht?« fragte sie. »Bischof Forbassach hat es selbst gesagt.«
Fidelma bemühte sich, zuversichtlich zu erscheinen.
»Es liegt jetzt am König und seinen Ratgebern. Trotz Forbassach behaupte ich weiterhin, daß es Fragen gibt, die gestellt werden müssen, und jeder unvoreingenommene Richter weiß, daß man ohne Antworten auf diese Fragen einem Menschen nicht das Leben nehmen kann.«
Schwester Étromma senkte den Kopf. »Das ist wohl so. Glaubst du wirklich, daß die Hinrichtung des Angelsachsen noch verschoben wird?«
Fidelmas Stimme war angespannt. Sie wählte ihre Worte mit Bedacht.
»Ich hoffe es. Aber es steht mir nicht zu, die Entscheidung des Richters vorauszusagen.«
»Ja, eben«, murmelte die Verwalterin. »Das ist hier kein glücklicher Ort mehr. Ich freue mich schon auf den Tag, an dem ich mich auf die Insel Mannanán Mac Lir zurückziehen und die Sorgen dieser Abtei hinter mir lassen kann. Doch ich nehme an, du willst den Angelsachsen sprechen?«
»Ja.«
Sie wandte sich um und ging wieder voran durch die Abtei und in den Haupthof. Die Sonne stand schon tief, und die Abtei lag im Dämmerlicht. Der Hof wurde aber von vielen Fackeln erhellt. Zwei Männer holten den Leichnam Bruder Ibars vom Galgen herunter, während zwei andere, darunter ein Mönch, ihnen zusahen. Sie schauten von ihrer grausigen Arbeit auf, und einer grinste sie an.
»Wir schaffen Platz für morgen«, rief er ihr zu. Es war ein Mann mit groben Zügen in Arbeitskleidung. In der Nähe hatte man Sackleinen auf den Steinplatten ausgebreitet als Unterlage für den Leichnam. Kein Holzsarg stand für Bruder Ibar bereit, stellte Fidelma fest, nur Sackleinwand und wahrscheinlich eine rasch ausgehobene Grube in dem Bruch am Flußufer. Die beiden schwarzgekleideten Arbeiter erinnerten sie eher an Raben mit den Knochen ihres Opfers denn an Leichenbestatter bei ihrer Tätigkeit.
Fidelma blieb stehen, und ihr Blick fiel auf den Mönch, der die anderen beaufsichtigte. Es war die stämmige, kriegerische Gestalt des Bruders Cett. Er maß sie mit einem schiefen Blick und entblößte seine brüchigen schwarzen Zähne. Sie hatte noch kaum einen Menschen gesehen, der so
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