09 - Vor dem Tod sind alle gleich
entschlossen, die Abtei zu verlassen.«
»Was kannst du mir über diese geheimnisvolle junge Novizin Schwester Fial erzählen?«
Äbtissin Fainder verzog ärgerlich das Gesicht.
»Sie war zwölf oder dreizehn Jahre alt. Sie stammte aus den Bergen im Norden. Ich glaube, sie sagte, sie und Gormgilla kamen gemeinsam her, um dieser Gemeinschaft beizutreten.«
»Zwölf oder dreizehn Jahre ist weniger als das Alter der Wahl«, erinnerte sie Fidelma. »Die Mädchen waren ein wenig zu jung, um sich aus eigenem Antrieb einer Gemeinschaft anzuschließen. Oder haben ihre Eltern sie hergebracht?«
»Ich habe keine Ahnung. Schwester Fial war sehr bewegt, was ja auch natürlich war, da sie doch den Tod ihrer Freundin miterlebt hatte. Sie weigerte sich, weiterzureden, nachdem sie die Ereignisse jener Nacht ausführlich beschrieben hatte. Ich finde es nicht überraschend, daß sie uns verlassen hat. Wahrscheinlich ist sie in ihre Heimat zurückgekehrt.«
Fidelma stieß einen Schrei aus, als ihr ein Gedanke kam. Die Äbtissin fuhr zusammen.
»Ein Kind unter vierzehn hat keine gesetzliche Verantwortlichkeit. Es muß das Alter der Wahl erreicht haben.«
Äbtissin Fainder wartete höflich. Ärgerlich führte Fidelma den Punkt weiter aus.
»Das bedeutet nach dem Gesetz, daß ein Kind in diesem Alter vor Gericht nicht aussagen kann. Das hätte ich in meiner Berufung geltend machen müssen. Die ganze Aussage Fials war bei Gericht nicht zulässig.«
Das schien die Äbtissin zu belustigen. »Da hast du unrecht, dálaigh. Bischof Forbassach hat es mir erklärt: Die Aussage eines Kindes in seiner eigenen Heimstatt darf gegen einen Verdächtigen verwendet werden.«
Fidelma war verwirrt. »Diese Auslegung des Gesetzes verstehe ich nicht. Wie konnte Fial, dieses Kind, sich in seiner eigenen Heimstatt befinden?«
Fidelma wußte natürlich, daß nach dem Gesetz das Zeugnis eines Kindes vor dem Alter der Reife unter bestimmten Bedingungen zugelassen war – wenn nämlich das Kind über etwas aussagte, was sich zum Beispiel in seinem eigenen Heim ereignet hatte und von dem es persönliche Kenntnis besaß. Nur in einem solchen Fall wurde die Aussage berücksichtigt.
Mit einem Lächeln überlegenen Wissens erwiderte Äbtissin Fainder: »Die Gemeinschaft bildet nach dem Urteil Forbassachs die Heimstatt ihrer Mitglieder. Das Kind war hier als Mitglied der Gemeinschaft. Dies war ihr Heim.«
»Das ist doch Unsinn!« fauchte Fidelma. »Das verdreht den Sinn des Gesetzes. Sie war als Novizin hergekommen, und nach dem, was gesagt wurde, hielt sie sich erst wenige Tage in der Abtei auf. Wie kann man nach dem Geist des Gesetzes da die Abtei als ihr eigenes Heim, als ihre Gemeinschaft bezeichnen?«
»Weil Bischof Forbassach es so entschied. Du solltest dich über dieses Gesetz mit ihm streiten und nicht mit mir.«
»Bischof Forbassach!« Fidelma verzog ärgerlich das Gesicht. Der Richter von Laigin hatte das Gesetz ganz erheblich gebeugt. Der Gedanke, daß ein unmündiges Kind ausgesagt hatte, war ihr erst jetzt gekommen; doch wenn Forbassach bereit war, das Recht so weit zu beugen, dann war es kein Wunder, daß er entschlossen war, seine früheren Urteile aufrechtzuerhalten. Wenn doch nur Barrán über die Berufung entschieden hätte, dann wäre Eadulf jetzt frei, und…
Äbtissin Fainder war bei ihrem spöttischen Ton errötet.
»Bischof Forbassach ist ein weiser und gerechter Richter«, verteidigte sie ihn. »Ich verlasse mich vollständig auf sein Wissen.«
Fidelma bemerkte, mit welcher Überzeugung die Äbtissin für den Brehon eintrat.
»Ihr scheint in dieser Abtei die Dienste Bischof Forbassachs häufig zu benötigen«, meinte Fidelma ruhig.
Die Äbtissin errötete noch tiefer.
»In den letzten Wochen haben mehrere Zwischenfälle den Frieden der Abtei gestört. Außerdem ist Forbassach nicht nur Brehon, sondern auch Bischof, und er hat seine Zimmer in der Abtei.«
»Forbassach wohnt in der Abtei? Das habe ich nicht gewußt«, warf Fidelma ein. »Nun, es ist schon ein eigenartiger Ort, an dem mehrere Menschen getötet wurden und andere verschwunden sind. Ich darf wohl annehmen, daß das nicht üblich ist?«
Äbtissin Fainder ignorierte ihren ironischen Ton.
»Deine Annahme ist richtig, Schwester Fidelma«, erwiderte sie kühl.
»Erzähl mir von Bruder Ibar.«
Einen Moment verschleierten sich die Augen der Äbtissin. »Ibar ist tot. Er hat seine gerechte Strafe just an dem Tag empfangen, als du hier ankamst.«
»Ich weiß, daß
Weitere Kostenlose Bücher