0900 - Der Magier
doch unweit der großen Stadt lag eine der ergiebigsten Oasen der Welt. Natürlich mussten die Bewohner auch hier im Palast sparsam mit dem wertvollen Nass sein, doch wirkliche Wassernot herrschte nicht. Unter der Herrschaft von König Neth ging es dem Volk besser als in früheren Zeiten. Der Frieden war ein deutliches Zeichen dafür.
Der Palast besaß vier mächtige Tore, die man zwar streng bewachte, die jedoch für niemandem mit friedlichem Willen verschlossen waren. Eupha passierte das südliche Tor unbehelligt. Alles schien wie immer zu sein, doch sie erschrak, als sie die ernsten Mienen der Leute bemerkte, an denen sie vorbeiritt.
Sie hatte ja nicht gezweifelt, dass die Aussage ihres Großvaters der Wahrheit entsprach, denn mit solchen Dingen scherzte wirklich niemand.
»Es ist das Eis. Das Eis der Welt schmilzt.«
Eupha sprang vom Rücken ihres Reittiers. Sofort eilte ein Bediensteter herbei, um ihr die Zügel aus der Hand zu nehmen und das Tier in seinen Stall zu bringen. Eupha eilte die breite Treppe empor, die sie in den inneren Bereich des Palastes brachte.
Eis… gefrorenes Wasser. Das war etwas, das es auf dieser Welt der Hitze und des Sandes nicht geben konnte. Eis war eine Legende, mehr nicht. Und dennoch hatte Eupha es einmal gesehen! Nur die Mitglieder der Königsfamilie hatten Zutritt zu den Katakomben, die es unter dem Sandpalast gab.
Die Kammer war winzig, wenn man die gesamte Fläche der unterirdischen Gänge betrachtete. Die Wände - zu Stein gewordener Sand wie alles hier - waren rau und unbehandelt. Es gab keine feinen Verzierungen, keine Symbole, keine der Kunstwerke, wie man sie an den Wänden im oberen Palast überall entdecken konnte. Nichts von alledem. Nicht einmal auf der mannshohen Säule, die in der Mitte des winzigen Kammer stand. Keinerlei Ablenkung für die Augen derer, die dieses Wunder hier schauen durften.
Denn auf der Säule ruhte die Kugel aus Eis!
Es war natürlich streng verboten, sie zu berühren, doch in einem unbeobachteten Moment hatte Eupha ihre Finger nicht bei sich behalten können. Damals war sie mit ausgestreckten Armen gerade einmal an die Wunderkugel heran gereicht, an dieses nahezu durchsichtige Gebilde, das ein ausgewachsener Mann nicht mit seinen Armen hätte umschließen können.
Eupha erinnerte sich noch genau daran. Als ihre Finger das Eis berührten, hatte sie aufgeschrien. Vor Schreck, aus Angst vor dem, was sie da gerade tat… auch aus Schmerz, denn ihre Fingerkuppen klebten sofort fest. Mit einem wilden Ruck hatte sie sich losgerissen und dabei einige Hautfetzen verloren.
Wie konnte etwas nur so kalt sein?
Vor allem - warum schmolz es nicht auf der Stelle? Damals wie heute hatte Eupha nicht an die Sage geglaubt, die Götter hätten das Welteneis hier installiert, um zu beweisen, wie allmächtig sie waren. Das musste einen anderen Grund geben. Vor allem - was war es, das dort in dieser Eiskugel eingeschlossen war? Man konnte es schemenhaft erkennen. Für Eupha war das Etwas dort ein winziger Sandsturm, denn es schien in ständiger Bewegung zu sein.
Als Eupha jetzt die Kammer betrat, da wunderte sich die junge Sandformerin über die Anwesenheit der nahezu kompletten Königsfamilie. Sie drängte sich zwischen Onkeln, Tanten und Cousinen - die sie allesamt nicht mochte, weil sie furchtbar langweilig waren - hindurch, bis sie direkt neben ihrem Großvater zu stehen kam. Was sie zu sehen bekam, das nahm ihr für Sekunden die Atemluft.
Die Kugel des magischen Welteneis… Wasser lief an ihr entlang, tropfte zu Boden. Eupha bückte sich, berührte die Wasserlache vor ihren Füßen. Nein, Großvater hatte nicht übertrieben. Das Unvorstellbare geschah - Eis wurde zu Wasser.
Eupha erschrak, als sie bemerkte, dass sie laut sprach: »Was wird geschehen, wenn das freigesetzt ist, was auf ewig hier verborgen bleiben sollte?«
König Neth legte den Arm um die Schulter seiner Enkeltochter. »Das weiß niemand, mein Kind. Doch ich befürchte, wir werden es in Kürze erleben. Die Sandgötter mögen uns allen gnädig sein.«
Das Objekt im Inneren der Kugel - es hieß, die Welt würde untergehen im ewigen Sandsturm, wenn es einmal dem Eis entkommen sollte. Auch die geballte Macht der Königsfamilie, ihre Fähigkeiten als Sandformer, würden das jetzt nicht mehr verhindern können. Das Eis schmolz.
Und plötzlich fror Eupha innerlich…
***
… und sie werden dem Sohn des Zimmermanns folgen…
Merlin schrak zusammen. Seine Gedanken waren tief in die
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