0901 - Aibons Hexenfalle
redete mit den Nachbarn. Sie kannten ihn wahrscheinlich in seiner Eigenschaft als Polizist, so würde ich mich um Borner kümmern können.
Er hatte sich aufgesetzt, lehnte mit dem Rücken an der Wand und starrte ins Leere.
Ich ging normal auf ihn zu. Er bewegte sich nicht. Neben ihm hockte ich mich nieder und entdeckte den dünnen roten Ring an seinem Hals. Für mich stand fest, daß er in die Gewalt einer Schlinge geraten war, und einige Verletzungen entdeckte ich auch auf seinem Gesicht und an den Händen.
»Können Sie reden?«
Er drehte mühsam den Kopf, schluchzte auf und sagte dann mit kaum zu verstehender Stimme: »Geben Sie mir bitte Ihre Hand.«
Ich tat ihm den Gefallen. Er faßte sie an, und ich spürte sein Zittern.
»Wissen Sie«, flüsterte er, »ich wollte einfach nur feststellen, ob ich noch lebe.«
»Ja, Sie sind am Leben.«
Er lachte und schluchzte zugleich. »Verdammt, ich weiß nicht mal, ob ich mich darüber freuen soll.« Er hatte mich losgelassen. Mit der linken Hand hatte er ein Taschentuch hervorgeholt. Er wischte damit über sein Gesicht und ließ auch den Bereich der Nase nicht aus. Dann starrte er mit leeren Blicken nach vorn.
»Sie brauchen keine Angst mehr zu haben«, sagte ich ihm. »Ich bin nicht Ihr Gegner. Mein Name ist John Sinclair und von Beruf Polizist, Scotland Yard.«
»Zu spät!« flüsterte er. »Viel zu spät…«
»Wieso? Sie leben…«
Borner antwortete leise. »Ja, ich lebe, aber…«
Er sprach nicht mehr weiter, weil wir beide die Tritte hörten. Brian Britton hatte die Treppe überwunden. Er war hochrot im Gesicht und schüttelte den Kopf.
»Was gibt es?« fragte ich ihn.
»Nichts, John, gar nichts. Die Nachbarn haben zwar das Splittern und Zerplatzen der Scheibe gehört, aber mehr nicht.«
»Also nicht den Schrei.«
»So ist es.« Er warf einen Blick auf Borner. »Wie geht es ihm? Hast du schon mit ihm reden können?«
»Zuwenig.«
»Okay, mach weiter. Ich schaue mich mal um.« Er schüttelte den Kopf.
»Es sind keine Fäden mehr zu sehen.«
»Ich konnte sie vernichten.«
Sein Lächeln war dünn. »Gibt uns das Hoffnung?«
»Mal sehen.«
»Bis gleich.« Brian Britton verschwand im Schlafzimmer, und ich konnte mich wieder um Borner kümmern, der weiterhin aus glanzlosen Augen nach vorn schaute, ohne etwas dabei erkennen zu können. Er war tief in seiner eigenen Leere oder in seinen eigenen trüben Gedanken verwoben.
»Sie leben, das ist wichtig«, erklärte ich ihm. »Ich sagte Ihnen das schon mal, aber Sie schienen mir nicht begeistert darüber zu sein. Oder irre ich mich?«
»Nein, Mister…«
»Ich heiße John Sinclair.«
Matt winkte er ab. »Wie auch immer, Mr. Sinclair. Ich lebe, das ist wahr, aber meine Frau Muriel, sie ist…« Er schluckte, weinte wieder und brachte es nicht fertig, das letzte Wort auch noch über seine Lippen zu bringen.
Es war auch nicht nötig, denn ich wußte schon, was er damit hatte sagen wollen. Seine Frau war tot. Erwischt wie auch die drei anderen Verschwundenen, und ich merkte, wie es heiß und kalt zugleich in meinem Innern hochstieg. Der leichte Druck im Kopf blieb ebenfalls. Ich stand auf, als Brian auf der Schwelle zur Schlafzimmertür erschien.
Diesmal war sein Gesicht nicht hochrot, sondern kalkweiß, wie das einer Leiche.
»Was ist, Brian?«
Er konnte nicht sprechen. Er starrte mich nur an. Sein Adamsapfel hüpfte beim Schlucken auf und nieder, dann krümmte er den zitternden rechten Zeigefinger und bedeutete mir, mit in das Schlafzimmer zu kommen. Er machte mir Platz, damit ich mich an ihm vorbeischieben konnte. »Schau auf das Bett, John…«
Das tat ich auch.
Einen Moment später nahm auch mein Gesicht eine blasse Farbe an…
***
Hätten wir nicht gewußt, was mit den anderen drei Opfern geschehen war, dann wären wir kaum auf den Gedanken gekommen, daß dieser Rückstand auf dem Bett einmal ein Mensch gewesen war, eine Frau namens Muriel Borner. Da lag etwas nicht größer als eine Hand und kaum mehr als Mensch zu erkennen, weil es durch irgendeinen Umstand das Gesicht verloren hatte, bis auf diesen Rest verkleinert worden war und so aussah, als hätte jemand eine Spielpuppe vergessen.
Mein Hals war trocken wie eine Wüste. Am Rücken lauerte die Kälte, die Stirn glühte plötzlich, als ich mich vom Fußende her über das Bett beugte, um mir den »Gegenstand« genauer anzuschauen.
Ein Mensch, eine Frau, die, durch welch grausames Schicksal auch immer, verkleinert worden war. Zwar gab es
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