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0903 - Der Schattenkelch

0903 - Der Schattenkelch

Titel: 0903 - Der Schattenkelch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Fröhlich
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abgedreht, den Speck von der heißen Platte und den Entsafter ausgeschaltet hatte und in den Flur geeilt war, hatten Enrico und Robert, der Gärtner, die Tür zum Arbeitszimmer schon eingetreten und das ganze Unheil entdeckt. Rosalie eilte auf den Raum zu, wollte wissen, was los sei, da kam ihr auch schon Enrico entgegen und hielt sie auf.
    »Es ist besser, wenn du da nicht reingehst«, sagte er. »Es ist etwas Schreckliches geschehen.«
    Mehr wollte er ihr nicht verraten. Das war aber auch nicht nötig, denn obwohl er sie sanft, aber dennoch mit Nachdruck zur Küche zurückdrängen wollte, hatte sie einen Blick über seine Schulter ins Arbeitszimmer werfen können.
    Er hatte nicht lange angedauert. Eine Sekunde vielleicht oder noch kürzer. Aber das hatte gereicht, ihr das fürchterliche Bild für immer in die Netzhaut zu brennen. Seit jeher hatte sie eine unglaubliche Fantasie und konnte sich in ihrem Kopfkino die buntesten Szenen in erstaunlicher Detailtreue ausmalen. Sie war sich sicher, dass der kleine Filmvorführer in ihrem Unterbewusstsein diese Filmrolle von nun an immer und immer wieder einlegen würde.
    Sie war in die Küche geschlurft, hatte sich hingesetzt, den ganzen Speck verputzt, ohne etwas zu schmecken, und dabei geweint. Sie hatte kämpfen müssen, nicht zusammenzubrechen. Einmal war ihr sogar richtig schwarz vor Augen geworden. Doch noch bevor die Küchenmädchen zur Arbeit gekommen waren, hatte sie sich wieder in den Griff gekriegt und nach außen hin eine Stärke demonstriert, die sie gar nicht besaß.
    Der nächste Blick auf die Uhr. Schon wieder waren zwei Minuten vergangen. Großartig! Das konnte ja noch eine lange Nacht werden.
    Als wäre die psychische Belastung aufgrund der Tragödie des Vortags noch nicht genug, ging es ihr seit dem späten Abend auch körperlich nicht besonders gut. Schubweise plagten sie immer wieder die gleichen Symptome. Es ging damit los, dass ihr Herz ein oder zwei Schläge auszusetzen schien, nur um kurz darauf umso wilder zu pochen. Wenn Rosalie das hinter sich hatte, plagten sie Hitzewallungen und Schweißausbrüche, die nach ihrem Abklingen von hämmernden Kopfschmerzen abgelöst wurden. Anschließend hatte sie eine gute Stunde ihre Ruhe, bis sich ihr Herz wieder dazu entschloss, einen oder zwei Schläge auszusetzen.
    Vielleicht sollte sie sich in ein paar Stunden, wenn sie die Frühstücksvorbereitungen hinter sich gebracht hatte, einen Termin beim Arzt geben lassen. Der Junior würde begeistert sein! Der erste Arbeitstag unter dem neuen Chef und gleich ein Krankheitstag.
    Aus dem Nebenzimmer erklang ein dumpfer Schlag und das Schnarchen verstummte.
    Rosalie musste grinsen. War Enrico doch von seinem eigenen Radau aufgewacht? Oder war er aus dem Bett gefallen, weil er es durchgesägt hatte?
    Sie hörte ein hohles Wummern. Dann noch eines und noch eines. Was machte Enrico denn da drüben? Stampfte er mit dem Fuß auf? Tanzte er Kasatschok? Blödsinn!
    Vielleicht war ihm etwas passiert. Wieder drängte sich das Bild eines blutüberströmten Körpers in ihr Bewusstsein. Doch diesmal war es nicht Clement Luynes, den sie vor ihrem inneren Auge sah, sondern dessen Chauffeur Enrico Saccone. Das Kino in ihrem Kopf lud zur nächsten Vorstellung: Saccone war tatsächlich aus dem Bett gefallen und hatte sich die Schläfe so heftig am Eck seines Nachtkästchens angeschlagen, dass er mit unkontrollierten Zuckungen auf dem Boden lag und verblutete. Von einem verletzten Gehirn gesteuert, schlug sein Bein auf den Boden. WUMM. Und noch einmal. WUMM.
    Sie schüttelte sich bei dem Gedanken und stand vom Bett auf.
    »Enrico?«, fragte sie in die Nacht hinein. »Alles in Ordnung?«
    In diesem Moment verstummte das Pochen.
    »Enrico?«
    Keine Reaktion. Stattdessen hörte sie Schritte.
    »Enrico! Bist du okay?«
    Da fiel es ihr ein: Der Chauffeur hatte ihr einmal erzählt, dass er nur mit Ohrenstöpseln schlief, weil er sonst bei jedem noch so leisen Geräusch aufwachte. Mit Ausnahme seines Schnarchens vermutlich, denn das müsste er selbst mit verkorkten Ohren hören. Doch wie auch immer, auf jeden Fall war es kein Wunder, dass er keine Antwort gab, wenn er die Stöpsel noch drin hatte. Aber wer herumlaufen konnte, lag nicht mit einer blutenden Kopfwunde auf dem Boden.
    Erleichterung machte sich in Rosalie breit. Die Schreckensfantasie, die sie vor sich gesehen hatte, war nichts anderes gewesen als genau das: eine Fantasie.
    Sie ließ sich aufs Bett sinken. Kaum hatte sie die

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