0903 - Der Schattenkelch
Fenster gelangen und hinausspringen, doch er kam nicht vom Fleck. Als er an sich herab sah, stellte er mit Entsetzen fest, dass seine Füße vollständig in dem hochflorigen Teppich verschwunden waren. Eingesunken wie in morastigem Boden. Er versuchte, den rechten Fuß dem Teppichmorast zu entreißen. Er zerrte und zerrte. Mit einem lauten Schmatzen gab das Sumpfmaul den Fuß frei, nur um seine Lippen sofort wieder darumzulegen, als Zamorra ihn an anderer Stelle aufsetzte.
»Du entkommst mir nicht!«, brüllte Lucifuge Rofocale. »Diesmal nicht!«
Dann führte er das längliche Gerät zum Mund, pustete in ein Ende hinein und drückte dabei auf den Tasten herum. Sofort erklangen Töne! Eine Melodie, die Zamorra bekannt vorkam. Richtig! Smoke on the water von Deep Purple.
Der Professor versuchte wieder, die Füße frei zu bekommen. Aber es ging nicht. Irgendetwas hielt sie mit eiserner Klaue fest. Dieses Etwas war jedoch nicht der Teppich, sondern…
... die Bettdecke.
Zamorra schlug die Augen auf. Bettlaken und Kopfkissen waren durchgeschwitzt und er hatte das Gefühl, in einem leckgeschlagenen Wasserbett zu liegen. Die Bettdecke hatte er nach unten gestrampelt, wo sie sich als Stoffwurst um seine Füße gewickelt hatte.
Der Professor setzte sich auf und wischte sich über die Stirn. Es wurde Zeit, dass Nicole aus Paris zurückkam. Mit ihr an seiner Seite hatte er noch nie von Lucifuge Rofocale geträumt, der auf einer Melodica Smoke on the water tutete. Er glaubte selbst jetzt noch, diese Melodie zu hören.
Nein, er hörte sie tatsächlich noch!
Das Handy auf dem Nachttisch!
Da endlich hatte Zamorra die letzten Schlieren des Schlafes abgeschüttelt und schnappte sich das TI-Alpha. Er nahm das Gespräch an und der Deep-Purple-Hit brach ab.
»Ja!«, bellte er hinein. Dabei schielte er auf die Digitalanzeige des Weckers: 4:23 Uhr. Oh, Mann!
Am anderen Ende erklang die Stimme von Chefinspektor Pierre Robin. »Zamorra, wir haben ein Problem! Kannst du sofort kommen?«
***
Vorher, Lyoner Nachtimpressionen, Teil 2
Rosalie Angliviers gewaltiger Busen hob und senkte sich. Die Nacht war schon weit vorangeschritten, aber sie hatte noch keine Sekunde geschlafen. Zumindest kam es ihr so vor. Seit Stunden wälzte sie sich im Bett von einer Seite auf die andere, sah auf den Wecker, wälzte sich zurück und begann wenige Minuten später von vorne. Oder sie legte sich auf den Rücken und beobachtete an der Zimmerdecke die Schatten und Schlieren, die der Vorhang im hereinfallenden Mondlicht warf. Nur um sich kurz darauf wieder von einer Seite auf die andere zu wälzen.
Sobald sie die Augen schloss, sah sie immer wieder das gleiche schreckliche Bild vor sich: Clement Luynes, der blutüberströmt auf dem Boden lag. Tot. Erschlagen.
Als einer von drei Küchenchefinnen in Luynes' Haushalt hatte der Industrielle ihr für ihren Dienst ein kleines Appartement zur Verfügung gestellt. So kümmerte sie sich eine Woche lang tagsüber um die Mahlzeiten, stand aber auch nachts auf Abruf bereit, falls Luynes spät nach Hause kam und vielleicht Geschäftsfreunde mitbrachte. Danach hatte sie zwei Wochen frei. Ein sehr entspannendes Arbeitsmodell und obendrein gut bezahlt.
Zumindest war es das bis gestern gewesen. Sie hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Roger Luynes, der Sohn des Ermordeten, hatte schon angedeutet, dass er nichts davon halte, die Angestellten auch noch nachts »im Pelz sitzen zu haben«, wie er sich ausgedrückt hatte.
Doch Rosalie wusste noch nicht einmal, ob sie überhaupt weiter hier arbeiten wollte. Denn mit Luynes Junior als Arbeitgeber wäre das alles, nur kein Spaß.
Sie drehte sich im Bett herum und sah auf den Wecker. Sieben Minuten nach drei. Exakt fünf Minuten später als bei ihrem letzten Blick. Dabei hätte sie schwören können, dass inzwischen mindestens eine halbe Stunde vergangen war.
Enrico Saccone, der Chauffeur, hatte diese Probleme offenbar nicht. Auch er blieb während seiner Schicht auf Rufbereitschaft in der Villa. Das Schlafzimmer seines Appartements grenzte an Rosalies und so wurde sie nun Zeuge seiner Waldarbeiten. Dass ein Mensch, der so schnarchte, nicht selbst davon aufwachte, war ihr ein Rätsel.
Rosalie seufzte und legte sich wieder auf den Rücken. Erneut schob sich das Bild von Luynes' Leiche vor ihr inneres Auge und sie schauderte.
Sie war gestern Morgen schon in der Küche gewesen und hatte das Frühstück vorbereitet, als das Getöse losging. Bis sie den Herd
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