0903 - Der Schattenkelch
Matratze berührt, ertönten aus Enricos Appartement ein erneuter dumpfer Schlag und ein Klirren. Als hätte sich eine Feder in ihr Hinterteil gebohrt, sprang Rosalie hoch. Die Erleichterung war wie weggeblasen.
Was zum Teufel war da drüben los?
Der Filmvorführer in ihrem Kopf legte eine neue Rolle ein. Sie handelte davon, dass der gestürzte Enrico zu sich kam, aufstand und einige Schritte ging. Er wollte das Telefon erreichen, um den Notarzt zu rufen. Doch dann brach er wieder zusammen und riss eine Vase oder einen Spiegel mit sich.
Sie warf sich einen Morgenmantel über, verließ das Schlafzimmer und ging entschlossenen Schrittes zur Appartementtür. Ihre Hand schwebte schon über der Türklinke, als sie verharrte.
Und wenn nun Clement Luynes' Mörder zurückgekehrt ist?
Sie schlug die Hand vor den Mund. Konnte das möglich sein? Aber was sollte er von Enrico wollen?
Was hatte er denn vom Chef gewollt, außer ihn umzubringen?
Mist! Was sollte sie nun tun?
Die Polizei rufen!
Doch wenn Enrico nun wirklich mit Ohrenstöpsel und im Halbschlaf auf dem Weg zur Toilette etwas umgeworfen hatte? Bekäme sie Ärger mit der Polizei, weil sie sie mitten in der Nacht wegen nichts alarmiert hatte?
Egal! Die würden es sicher verstehen, wenn nach dem Mord an Clement Luynes bei dessen Bediensteten die Nerven blank lagen.
Sie drehte sich um und ging zum Telefontischchen. Sie hatte gerade die letzte Ziffer des Notrufs getippt, als ihr Herz einen oder zwei Schläge aussetzte und danach zu rasen begann.
Oh nein! Nicht gerade jetzt!
Ihr wurde schwindlig. Sie ließ den Hörer fallen und stützte sich mit zittrigen Händen am Tischchen ab. Sie versuchte, so ruhig und gleichmäßig wie möglich zu atmen.
Eine Hitzewelle schoss ihr durch den Körper und sofort perlten Schweißtropfen von ihrer Stirn.
Völlig unvermittelt tauchten in ihrem Kopfkino Bilder auf. Schreckliche Bilder, die sie nicht einordnen konnte. Sie sah sich selbst, wie sie sich mit einem scharfen Fleischmesser aus der Küche die Pulsadern öffnete. Erst zwei lange, senkrechte Schnitte auf dem rechten Unterarm, dann noch einmal zwei auf dem linken. Sofort sprudelte das Blut hervor und tropfte in…
Nein! Was sind das für Gedanken? Schluss damit! Schluss! SCHLUSS!
Ein glühender Schmerz schmolz sich in ihr Gehirn.
Rosalie stöhnte auf und griff sich an die Schläfe. Was war nur los mit ihr? Diese Attacke war die schlimmste der ganzen Nacht!
Sie musste den Arzt rufen. Nicht erst in ein paar Stunden. Jetzt sofort!
Sie streckte die Hand aus. Zum Telefon. Doch sie griff ins Leere.
Der Hörer! Wo war der Hörer?
Durch den Wall aus Schmerz grub sich die Erinnerung. Die Polizei! Sie hatte die Polizei gerufen. Der Hörer lag irgendwo auf dem Boden. Suchen! Sie musste ihn suchen. Und dann den Arzt holen. Oder erst mit der Polizei reden? Wo war nur der Hörer? Wo?
In ihrer Pein bemerkte sie nicht, wie die Klinke der Appartementtür für einen Augenblick bläulich aufleuchtete. Sie bemerkte nicht, wie die Tür nach innen schwang. Und sie bemerkte nicht, wie ein Mann hereintrat und sie von ihren Schmerzen erlöste.
Für immer.
***
Zamorra wurde die Kehle eng, als er vor Rosalie Anglivier stand. Er atmete durch den Mund, um den scharfen Geruch nach verbranntem Fleisch nicht ertragen zu müssen.
Wer tat so etwas? Wer war zu so etwas fähig?
Nach Robins Anruf war Professor Zamorra sofort aus dem Bett gesprungen. Obwohl er wach war, hatte er immer noch den Eindruck, eine Socke im Mund zu haben, so gefühllos und trocken, ja fast schon ausgedörrt, war seine Zunge. Obwohl der Chefinspektor ihn gebeten hatte, so schnell wie möglich nach Lyon zu kommen, nahm er sich deshalb noch die Zeit, die Zähne zu putzen. Er vertrieb den Nachtgeruch in den Achseln mit reichlich Deodorant und schlüpfte in frische Klamotten. Da er auf die frühmorgendliche Dusche verzichten musste, schlürfte er wenigstens noch hastig einen Instantkaffee und verbrühte sich dabei die Zunge. Na ja, wenigstens konnte er sie jetzt wieder fühlen.
Gestern hatte er für seinen Weg nach Lyon noch den BMW benutzt, um dem Geschoss auf vier Rädern wieder einmal etwas Auslauf zu gönnen. Heute jedoch entschied er sich für eine andere und schnellere Art des Reisens. Außerdem hatte der gestrige Ausflug mit einem verdreckten Fahrersitz geendet!
Zamorra ging in eines der Kellergewölbe von Château Montagne, wo ganzjährig unter einer freischwebenden Minisonne eine Kolonie Regenbogenblumen blühte.
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