0903 - Der Schattenkelch
Wenn man zwischen diese Gewächse mit den mannshohen Blütenkelchen trat und eine genaue Vorstellung von seinem Zielort hatte, transportierten sie einen ohne Zeitverlust dorthin, vorausgesetzt am Ziel gab es ebenfalls eine Blumenkolonie. Und genau die gab es im Stadtpark von Lyon. Also hatte der Meister des Übersinnlichen mit Robin vereinbart, dass der einen Streifenwagen zum Park schickte, der Zamorra dort abholen sollte.
Nur fünfzehn Minuten später war er vor Luynes' Villa vom Chefinspektor in Empfang genommen worden. Diesmal hatte der ihn jedoch um das Gebäude herum geleitet.
»Hier geht es zu den Einliegerwohnungen der Bediensteten«, hatte Robin erklärt. »Die Leute von der Spurensicherung warten draußen. Ich wollte, dass zuerst du das siehst.«
Und nun stand Zamorra in einem kleinen Badezimmer vor der Leiche von Rosalie Anglivier und konnte es nicht fassen. Er schluckte trocken.
Er hatte die Küchenchefin gestern nur kurz gesehen, dennoch war ihm ihr resoluter Auftritt im Gedächtnis haften geblieben. Und nun war sie tot. Ihr Gesicht war eine schmerzverzerrte Grimasse. In ihrer Brust klaffte eine riesige Wunde. Ihr Körper lag verkrümmt neben der Duschkabine - und im Waschbecken sah Zamorra einen verkohlten Fleischklumpen.
»Ist das… ist das ihr Herz?«, fragte er.
»Vermutlich.«
»Scheiße!«
»Du sagst es. Wir haben keine Ahnung, was sich hier abgespielt hat. Wir wissen nur, dass von Madame Rosalies Telefon aus der Polizeinotruf gewählt wurde. Die Kollegen in der Notrufzentrale haben aber nur Geräusche gehört, die auf einen Kampf hindeuteten. Also haben sie eine Streifenwagenbesatzung zu der Adresse geschickt, die zu der übermittelten Rufnummer passte, um sich mal umzusehen.« Robin räusperte sich. »Das hat die Streife getan und zwei Leichen entdeckt.«
»Wer ist der andere Tote?«
»Enrico Saccone, der Chauffeur. Im Appartement nebenan. Auch ihm wurde… wurde das Herz herausgerissen und verbrannt.«
Zamorra nagte für einige Sekunden auf der Oberlippe. »Das ist meine Schuld«, sagte er schließlich.
Robin riss die Augen auf. »Wie kommst du denn auf diese Idee?«
»Ich bin so ein Idiot! Du erinnerst dich an den Schatten, der mich gestern angegriffen hat?«
»Wie könnte ich den vergessen?«
»Nachdem ich ihn vernichtet hatte, habe ich dich angerufen und gesagt, die Villa brauche nicht evakuiert werden.«
Robin nickte.
»Später habe ich dann herausgefunden, worum es sich bei dieser schwarzen Wolke handelte. Nämlich um einen Schattenhund«, fuhr Zamorra fort.
Pierre Robin machte eine weitschweifige Geste und zeigte dann zu dem verkohlten Herz. »Ich verstehe trotzdem nicht, warum du dir an… an dem hier die Schuld gibst.«
Zamorra seufzte. »Die Legende, auf die ich gestoßen bin, erzählte nicht nur von einem Schattenhund, sondern von mehreren. Wenn einer hier aufgetaucht ist, warum dann nicht auch die anderen? Ich begreife nicht, dass bei mir nicht sämtliche Alarmglocken geläutet haben. Ich hätte dich sofort noch einmal anrufen müssen! Aber ich habe einfach nicht daran gedacht!«
»Du glaubst, das hier waren Schattenhunde? Was auch immer das sein mag.«
»Das sind mächtig hässliche Viecher. Sie sehen aus wie eine Mischung aus Hund und Affe, nur vollkommen nackt. In so ein Ding hat sich die schwarze Wolke verwandelt.«
»Aha. Und so ein Wesen soll den Opfern die Herzen herausgerissen und verbrannt haben?«
Zamorra zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Vielleicht nicht. Aber ich hätte zumindest erkennen müssen, dass die Gefahr noch nicht vorbei ist.«
Robin zeigte auf Zamorras Brust. »Meinst du, du könntest mit deinem Amulett noch einmal in die Vergangenheit schauen? Gestern hat es zwar nicht viel gebracht, aber vielleicht haben wir heute mehr Glück.«
Der gestrige Tag hatte den Meister des Übersinnlichen viel Kraft gekostet. Zuerst die Zeitschau , dann die Attacken des Schattenhundes und die kraftintensiven, aber zwecklosen Verteidigungs- und Angriffsbemühungen des Amuletts. Nach einigen Stunden Schlaf wäre er sicher wieder topfit gewesen, doch die Nacht war viel zu kurz gewesen und die Albträume hatten ihr Übriges getan, sodass Zamorra sich nicht annähernd so erholt fühlte, wie er es sich gewünscht hätte.
Eine erneute Zeitschau würde ihn wieder einiges an Kraft kosten. Trotzdem hatte er keine andere Wahl! Er musste wissen, was hier geschehen war. Er musste wissen, wie groß seine Mitschuld daran war! Koste es, was es wolle.
»Du
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