0903 - Nächte der Angst
Sir. Bis später dann.« Er legte auf. Eine Uhrzeit nannte er nie, denn Tanner gehörte zu den Menschen, die oft Doppelschichten schoben, wenn es erforderlich war.
Wenn er ehrlich war, konnte er sich an Alex Preston nicht mehr erinnern. Wohl aber an Vera, die Tochter seines Bruders. Sie war schon immer kirchlich engagiert gewesen, und wenn er sich richtig erinnerte, wollte sie sogar diesen Beruf ergreifen. Pastorin werden oder so ähnlich. Was genau daraus geworden war, wußte er nicht. Vielleicht würde es ihm Alex Preston sagen. Er würde ihn auf jeden Fall danach fragen.
Nach einem kurzen Hustenanfall öffnete der Chief Inspector die Mappe und schaute sich die Berichte an. Er überflog sie und freute sich darüber, daß es eine relativ ruhige Nacht gewesen war. Ein paar Schlägereien, ein Totschlag nur, der ihn als Chef der Mordkommission nichts anging, weil er in einem anderen Revier passiert war, vier Einbrüche, zwei versuchte Vergewaltigungen. Dann Ärger mit irgendwelchen Neonazis, die ein Lokal hatten anzünden wollen, ansonsten gab es nicht viel. Unter jeden Berichte setzte Tanner seine Paraphe, schlug die Mappe dann zu und schaute auf, als sich die Tür öffnete.
Ein Mitarbeiter betrat das Büro und blieb in einem Sicherheitsabstand vor dem Schreibtisch stehen.
»Warum kommen Sie nicht näher?« fragte Tanner:
»Sir, Sie sind doch erkältet.«
Tanner verdrehte die Augen. »Meine Güte, ist das so außergewöhnlich für euch?«
»Bei Ihnen schon«, meinte der junge Mann und grinste.
Tanner nahm die Mappe und reichte sie dem Mitarbeiter. »Ich habe alles abgezeichnet, war ja eine ruhige Nacht.«
»Zum Glück, Sir.« Der Mann klemmte sich die Mappe unter den Arm. »Da ist noch etwas.«
»Und?«
»Jemand will mit Ihnen sprechen, Sir.«
»Alex Preston?«
»Ja, so heißt er.«
»Rein mit ihm.«
»Klar, mach ich.« Ein Grinsen überflog das Gesicht des Mitarbeiters. Er wunderte sich wohl darüber, wie scharfsinnig sein Chef wieder kombiniert hatte, und als er das Büro verließ, wurde er von Alex Preston abgelöst.
Chief Inspector Tanner hatte sich erhoben. »Alex!« rief er, »wir haben uns ja lange nicht gesehen.«
»Stimmt, Sir.« Alex wollte Tanner die Hand reichen, der aber schüttelte den Kopf, »Nein, lieber nicht, Alex, ich bin erkältet und möchte nicht, daß du dich ansteckst.«
»Ist schon okay.«
»Setz dich.«
Auch die Besucherstühle waren alt. Als Polster diente ein dünner, grüner Pilz.
»Nun, Alex, wie sieht es aus? Ist bei dir alles okay? Läuft die Ausbildung?«
»Ja, es geht glatt.«
»Freut mich, dann können wir dich ja bald als Kollegen begrüßen.«
Der junge Mann lächelte etwas verloren, bevor er den Kopf hob und Tanner anschaute. Sein Gesicht hatte sich verändert. Auf der Haut zeigten sich rote Flecken, er wühlte das blonde Haar durch, und in den Augen las Tanner Verzweiflung.
»Du hast Probleme, Alex?«
»Ja, nein…«
»Was denn nun?«
Alex ruckte hoch, stand aber nicht auf, sondern ließ sich wieder zurückfallen. »Es geht nicht um mich, sondern um Ihre Nichte.«
»Um Vera?«
»Ja.«
»Was ist mit ihr?«
Alex verrenkte sich bei der Gestikuliererei beinahe die Hände. »Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll. - Sie hat sich schrecklich verändert. Vera ist nicht mehr die, die sie einmal war. Und ich bin auch mit meinem Latein am Ende. Ich sah nur noch die Möglichkeit, zu Ihnen zu kommen, Sir.«
»Das kann gut gewesen sein, Alex. Ich mache dir einen Vorschlag. Fang ganz von vorn an.«
»Ja, das werde ich.«
Dann berichtet Alex Preston. Es störte ihn auch nicht, daß sich der Chief Inspektor Notizen machte, im Gegenteil, er fand es gut und erzählte wirklich alles.
Nach einigen Minuten war er fertig und hatte sich so aufgeregt, daß er sich zunächst einmal den Schweiß aus dem Gesicht wischen mußte. Selbst den Angriff des Hundes hatte er nicht ausgelassen.
»Jetzt weiß ich also alles.« Alex nickte.
»Und…«, Tanner überlegte und drückte den Kippsessel zurück, »wie denkst du, geht es weiter?«
»Ich bin ratlos. Vielleicht sollten Sie mal mit Ihrer Nichte sprechen und ihr ins Gewissen reden.«
»Warum gerade ich? Vera hat doch Eltern.«
»Das weiß ich. Nur habe ich das Gefühl, daß hinter ihrer Veränderung etwas anderes steckt, etwas, das die Polizei angeht. Ich denke, daß sich Vera in einem gefährlichen Netz verfangen hat und aus ihm nicht mehr herauskommt.«
»Kann sein.« Tanner hob seinen Bleistift an und zeigte mit der
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