0903 - Nächte der Angst
gegenüber. Du handelst selbst nicht nur fremd, du bist mir selbst entfremdet. Ich kann es dir nicht sagen, was mir noch alles an dir aufgefallen ist, aber ich kann ein Fazit ziehen, Vera. Du bist nicht mehr diejenige, die ich vor fast zwei Jahren kennengelernt habe. Etwas ist mit dir geschehen. Ich gehe davon aus, daß du unter einem schon lebensbedrohlichen Druck stehst. Jemand hat dich in der Hand, aber ich weiß nicht, wer es ist.«
Wie recht du hast! Wie recht du hast! Vera hätte die Worte gern in den Hörer geschrieen, sie stand auch dicht davor, dann ließ sie es doch bleiben, denn vor ihrem geistigen Auge tauchte wieder die Szene auf, als sie mit Lou Ryan im Bett gelegen hatte. Dieses wilde Liebesspiel, mit dem sie ihn nicht belasten wollte.
»Sag etwas, Vera.«
»Ich weiß nicht, Alex. Ich kann dir auch keine genaue Antwort geben.«
»Aber im Prinzip habe ich recht.«
»Wie meinst du das?«
»Daß man dich bedroht.«
»Nein, eigentlich nicht. Es ist – mein Güte, ich mache im Moment eine Krise durch!«
»Hängt das mit mir zusammen?«
»Nein, nicht direkt. Es liegt an mir selbst. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Ich schlafe auch schlecht und…«
»Dann hast du mir den Hund geschickt, weil du eine Krise durchmachst, Vera?«
»Unsinn, Alex!«
»Ja, Vera, alles ist Unsinn. Das ganze Leben ist für uns zu einem Unsinn geworden. Ich bin fest davon überzeugt, daß du mehr weißt, als du mir gegenüber zugegeben hast. Aber ich kann dir eines versichern. Ich werde es nicht so einfach hinnehmen. Ich werde um dich kämpfen, Vera. Ich werde dich auf keinen Fall aufgeben, so gut solltest du mich kennen.«
»Ja, natürlich.«
»Mehr hast du nicht zu sagen?«
»Was soll ich denn noch hinzufügen?«
Er lachte bitter. »Ja, Vera, was solltest du noch sagen? Wir werden uns im Laufe des Tages noch sehen, und dann reden wir Auge in Auge miteinander. Am Telefon ist das nichts, ich muß dich einfach anschauen, wenn ich mit dir spreche.«
»Ja, vielleicht ist das besser.«
»Du kannst dir ja schon überlegen, wie du mir die ganze Wahrheit näherbringen willst.«
Vera Tanner wollte noch etwas sagen, aber ihr Verlobter hatte die Verbindung bereits unterbrochen.
Ihr rutschte der Hörer aus der schweißfeuchten Hand und blieb auf dem Apparat liegen.
Vera Tanner stöhnte auf. Sie ging einige Schritte nach rechts, bis sie den Türpfosten erreicht hatte.
Dort preßte sie ihre Stirn gegen das Holz und schluchzte.
Es war nicht vorbei, es fing erst an. Und über allem stand drohend wie ein unheimliches Gewitter das kalte Gesicht eines gewissen Lou Ryan, der sein Netz immer enger zog.
Die junge Frau stellte sich die berechtigte Frage, ob sie noch genügend Kraft aufbrachte,, sich dagegen zu wehren.
Sie glaubte nicht mehr daran…
***
»Guten Morgen, Sir!«
Dieser Gruß wurde nicht nur einmal gesagt, sondern klang aus mehreren Kehlen, als Chief Inspector Tanner gegen zehn Uhr die Dienststelle betrat, mit einer leichten Verspätung, aber die hatte bestimmte Gründe gehabt. Tanner war von seiner Frau zum Arzt geschickt worden und hatte sich ein Mittel gegen Husten und Heiserkeit verschreiben lassen, denn seine Stimme klang so, als würde er in einen Eimer sprechen.
Da alle darauf warteten, wie sich die stimme an diesem Morgen anhörte, erwiderte Tanner nichts, winkte nur mehrmals ab und verschwand, begleitet von den grinsenden Gesichtern seiner Männer im Büro, in dem er sich sehr Wohl fühlte.
Das war sein Reich, in dem sogar ein Feldbett stand, es aber keinen Computer gab.
Natürlich wußte Tanner, daß eine moderne Polizei ohne die moderne Technik nicht auskam, doch um die, bitte schön, sollten sich seine Mitarbeiter kümmern. Wenn er bestimmte Ergebnisse brauchte, wurden sie ihm übermittelt, ansonsten verließ sich Tanner, der alte Fuchs, mehr auf seinen Bauch.
Bei ihm paarten sich Erfahrung und Intuition. Er war jemand, der nachdachte, der methodisch vorging, der überlegte, keinen Computer brauchte, sich auf sein Notizbuch verließ und natürlich auf einen Bleistift und einen Kugelschreiber.
Wie immer trug Tanner dieselbe Kleidung, über die sich Kate, seine Frau, schon seit Jahren aufregte, was ihm aber nichts ausmachte. Im Winter, wie jetzt, gehörte dazu ein grauer Mantel. Darunter trug er den grauen Anzug, natürlich eine graue Weste und immer helle Hemden, mal gestreift, mal weiß. Auch die Krawatten suchte ihm Kate aus, stets in gedeckten Farben, das hatte er sich ausgebeten und
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