0904 - Ein teuflischer Verführer
Amanda strich Vera über das Haar.
»Ist dem nicht so?«
»Ja, du hast recht.«
»Wunderbar.« Amanda nahm wieder ihren Platz ein. Sie drehte den Verschluß der Flasche auf.
Heller Gin gluckerte wenig später in die schmalen, hohen Gläser, und drei Hände faßten hin und hoben die Gläser an. Man nickte sich zu und trank.
Vera kippte sich ebenso wie die Serrano-Schwestern, das Zeug in die Kehle. Sie schüttelte sich ein wenig, denn sie hatte das Gefühl, Säure zu trinken. Sie nahm noch einen zweiten Schluck, dann ging es ihr besser. Im Magen breitete sich Wärme aus, und ein Gefühl der Leichtigkeit überschwemmte sie.
»Geht es dir gut?« fragte Amanda flüsternd und hörte nicht auf, Vera zu streicheln.
»Jetzt schon.«
»Du weißt, was du uns noch hast sagen wollen?«
»Sicher.«
»Willst du?«
Vera lächelte verschmitzt und verklärt. »Es macht euch nichts aus?«
»Nein, nein, nein! Wir warten darauf. Außerdem müssen wir uns die Zeit verkürzen. Es wird noch etwas dauern, bis er eintrifft. Bitte, fang an.«
Vera Tanner tat Amanda den Gefallen, und sie nahm wirklich kein Blatt vor den Mund. Abermals wunderte sie sich darüber, wozu sie fähig war. Ausdrücke, die ihr früher nicht mal in den Sinn gekommen wären, flossen ihr glatt über die Lippen.
Amanda hörte zu. Sie war gespannt. Die Erzählungen törnten sie an, und auch Olivia konnte eine gewisse Unruhe nicht verbergen. Die drei Frauen steckten die Köpfe zusammen. Sie flüsterten, ihre Augen schimmerten in einem bestimmten Glanz, und es lag auch die Sehnsucht darin, mit Lou das gleiche zu tun.
Irgendwann drückte sich Vera auf dem Stuhl zurecht. »Mehr kann ich euch nicht sagen.«
»Das war schon super«, gab Amanda zu. »Das war mehr, als ich zu hoffen gewagt habe.« Sie stieß ihre Schwester an. »Ich habe es auch gespürt, als ich ihn zum erstenmal sah, und ich denke, daß Vera nicht die einzige bleiben wird. Ich glaube, daß uns eine sehr interessante Nacht bevorstehen wird.«
»Auf der Lichtung?« fragte Olivia skeptisch.
»Ist das nicht egal, wo wir es machen?«
»Im Prinzip schon.«
»Eben.« Amanda seufzte und schaute aus dem Fenster. Dahinter lag noch immer der graue Tag, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis der Abend ihn ablöste. »Ich wünschte mir, er wäre schon hier«, sagte sie. »Ich sehne mich danach…«
Vera und Olivia konnten ihr da nur zustimmen.
***
Es stimmt. Wir hatten kein Glück, wie uns Tanner sofort nach unserem Eintreten in sein Büro erklärte. Seine Nichte war nicht gefunden worden. Die Beamten, die ihre Wohnung durchsucht hatten, waren auf Hinweise einer hastigen Flucht gestoßen, mehr war nicht möglich gewesen, und diese Tatsache hatte Tanner deprimiert.
Wir kannten ihn als einen agilen Menschen, der immer genau wußte, wo es langging, nun aber hockte er hinter seinem Schreibtisch wie das berühmte Häufchen Elend, und er starrte uns an, als wären wir gar nicht vorhanden. So sah jemand aus, der durch andere hindurchsieht und mit seinen Gedanken woanders ist.
Jemand brachte Kaffee. Er stellte die Kanne und die Tassen auf den Schreibtisch. Suko und ich verteilten sie, gossen auch ein, und Tanner trank automatisch. Wahrscheinlich bekam er nicht mit, was er da schlürfte. »Keine Spur von meiner Nichte und auch keine von diesem Lou. Er hat es geschickt angestellt, sage ich euch. Das war nicht nur spontan gehandelt, da steckte ein nahezu teuflischgenialer Plan dahinter, und er ist voll aufgegangen.« Er stellte die Tasse wieder ab. »Ergibt sich die Frage, was wir in der Hand haben. So gut wie nichts. Einen schwerverletzten Mann, das ist alles. Einer, der zumindest Mut bewiesen hat und sich dem Horror entgegenstemmte. Als Lohn für seine Tat bekam er zwei Messerstiche.« Tanner schüttelte den Kopf. »Es ist an der Zeit, Freunde, daß wir den Sumpf ausrotten.«
Wir gaben ihm recht.
»Aber wo anfangen?« murmelte ich.
Ich kam auf ein anderes Thema zu sprechen. »Wie steht es eigentlich mit deiner Information an Veras Eltern? Hast du deinem Bruder oder der Schwägerin inzwischen reinen Wein eingeschenkt?«
Tanner schüttelte den Kopf. Sein Hut fiel dabei nicht runter. »Habe ich nicht.«
»Warum nicht?«
Er schaute mich böse an. »Ich habe es einfach nicht überwunden, ich habe mich nicht getraut, verflucht! Ich weiß nicht, wie ich es meinen Verwandten darstellen soll. Das ist einfach zuviel für mich, obwohl ich schon einiges hinter mich gebracht habe. Ich kann den Eltern einfach
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