0904 - Ein teuflischer Verführer
erkundigen.«
»Mach ich.«
Tanner war nicht mehr derselbe. Die Sorgen hatten sein rationales Denken überschattet. Er reagierte nur mehr emotional. Er wollte nicht, daß andere einen Sieg errangen, und er hatte sich dabei aufs Eis begeben. Als Leiter der Mordkommission mußte er rational handeln und konnte sich nicht in den Welten bewegen, in denen wir uns befanden.
Daß es gerade seiner Nichte passiert war, hatte ihn schlimm getroffen. Er fühlte sich persönlich angegriffen. Am schlimmsten war es für ihn, daß er mit normalen Polizeimethoden den Fall nicht lösen konnte.
Wenig später hatte man ihn mit der Station verbunden, auf der Alex Preston lag. Auch seine Eltern waren sicherheitshalber nicht informiert worden. Wir hatten den Kreis der Mitwisser möglichst klein gehalten, und Tanner behielt nach einigem Drängen eine Auskunft, die uns zunächst zufriedenstellte.
Alex ging es besser. Er würde durchkommen. Die Klinge hatte keine lebenswichtigen inneren Organe verletzt. In zwei bis drei Wochen konnte er das Krankenhaus verlassen, wurde angenommen.
»Wenigstens eine gute Nachricht«, sagte Tanner.
Die zweite folgte wenig später mit dem Anruf aus Tiptree. Der zuständige Beamte hatte einen Streifenwagen losgeschickt, und seine Kollegen hatten den Wagen gefunden.
Der Fiat stand tatsächlich vor dem Haus. Er war abgestellt worden, als gäbe es überhaupt nichts zu verbergen. Tanner bedankte sich, dann legte er auf und schüttelte den Kopf, als er uns anschaute.
»Es ist kaum zu fassen. Die scheinen sich so sicher zu fühlen wie in Abrahams Schoß. Das ist Wahnsinn!«
Ich konnte mir das Lächeln nicht verkneifen. »Jetzt wissen wir, wo wir ansetzen können.«
»Im Haus?«
»Nein, Tanner, nicht im Haus. Ich denke, daß die Lichtung im Wald eine besondere Rolle spielen wird, und ich gebe auch zu, daß Suko und ich einen Fehler begangen haben. Wir hätten uns intensiver um sie kümmern müssen. Daß sie einmal das Versteck für drei Vampire war, hätte uns nachdenklich machen müssen. Aber auch Profis irren, das ist menschlich.«
»Werdet nicht zu menschlich«, sagte Tanner und fragte dann: »Wann fahren wir?«
»Wir?« wiederholte ich.
»Aber klar doch. Oder glaubst du, daß ich hier im Büro zurückbleibe? Nein, das kommt nicht in Frage. Ich werde mit euch fahren, ich werde dabeisein, darauf könnt ihr euch verlassen.«
»Okay«, sagte ich und erhob mich. »Dann los!«
***
Die Serrano-Schwestern hatten Vera Tanner nach oben geführt und ihr das Zimmer gezeigt, in dem sie wohnen konnte. Sie war einverstanden gewesen, fand es sogar nett, doch mit ihren Gedanken war sie ganz woanders. Sie wartete auf ihren neuen Freund. Lou Ryan mußte doch erscheinen, er konnte sie nicht im Stich lassen. Immer häufiger schaute sie auf die Uhr, und die Frauen mußten sie beruhigen.
»Keine Sorge, Kind, er wird kommen. Du wirst erleben, wie er dich in die Arme nimmt und dann in den Wald zu dieser Lichtung führt. Dort wird er dich bestimmt in sein neues Leben einweihen.«
»Neues Leben?«
»Ja.«
»Wie stellt ihr euch das vor?«
»Das weiß nur er«, sagte Amanda und trat ans Fenster um hinauszuschauen.
Es dämmerte bereits. Schatten flossen vom Himmel her gegen die Erde und ließen scharfe Umrisse verschwinden. Das Gelände war wie eingetaucht in ein graues Tuch. Mit dem bloßen Auge konnte kaum etwas unterschieden werden, denn Höhen und auch Tiefen verschwanden, und so war ein einziges Bild aus düsteren Farben entstanden.
In das sich etwas hineinschob, denn von der Straße her hatte sich ein Schatten gelöst, der rasch näher kam. Ein bleiches Auto leuchtete, der Strahl eines Scheinwerfers war auf das Haus gerichtet und fuhr wie ein blasser Arm über den Boden.
»Er kommt!« meldete Amanda.
»Wo?« Vera lief zu ihr und stellte sich neben die Frau am Fenster.
»Schau!«
Veras Herz klopfte schneller. Sie lächelte plötzlich. In ihre Augen war ein bestimmter Glanz getreten. Sie erwartete, daß er zu ihr kommen würde, um sie in die Arme zu schließen, und sehr bald schon hatte das Motorrad das Haus erreicht, wo Lou Ryan den Motor stoppte, von der Maschine stieg und sie aufbockte.
Das Licht sank zusammen. Er nahm den Helm ab, und ein Tier bewegte sich dicht bei ihm.
»Oh«, sagte Amanda, »er hat einen Hund mitgebracht.«
Vera nickte nur. Sie kannte ihn nicht, aber sie wußte, daß es der Hund war, der ihren Freund angegriffen hatte. Ihren Freund, ihren Verlobten? Nein, an das Versprechen fühlte sie
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