0905 - Puppenterror
gut aus, aber die Anschrift war mir unbekannt. Vielleicht wohnt sie außerhalb.
Zehn Minuten später wußte ich, daß das Künstlerpaar im Südwesten wohnte, Richtung Wimbledon.
Laut Straßenkarte war es ein Industriegelände.
Das war doch schon was. Am Schreibtisch blieb ich sitzen. Jetzt stieg mir »mein« Deponiegeruch in die Nase, aber wo sollte ich mich duschen und umziehen? Höchstens zu Hause. Sollte ich jetzt wirklich heimfahren?
Ich schaute das Telefon an, als Sollte es mir einen Ratschlag geben. Natürlich hätte ich die Künstlerin auch anrufen können, darauf aber wollte ich verzichten. Wenn Suko und ich Kontakt mit ihr bekamen, dann einen direkten und persönlichen.
Lange hatte es der Inspektor in der Kantine nicht ausgehalten, und er sah auch nicht glücklich aus, als er das gemeinsame Büro betrat. »Na?« dehnte ich, »hat es dir geschmeckt?«
Er warf mir einen bösen Blick zu, bevor er sich auf seinen Platz setzte. »Heute wurde auch frisch gekocht.«
»Habe ich etwas verpaßt?«
»Chinesisch.«
»Das war ja was für dich.«
Sein Blick wurde noch böser. Beinahe wie eine scharfe Klinge glitt er über den Schreibtisch hinweg.
»Selbst du hättest das ebenso gut oder schlecht zubereiten können. Aus der Dose in den großen Topf, richtig rühren und achtgeben, damit nichts anbrennt.«
»Gut.«
»Und wenn du den Fraß auf den Teller bekommst, schmeckt er auch entsprechend.«
Ich mußte grinsen. »Wie denn?«
»Wenn du anfängst, an deinen stinkenden Klamotten zu lecken, liegst du ungefähr richtig.«
»Das war also keine Offenbarung.«
»Nein. Und bei dir?«
»Bei mir hat sich etwas offenbart. Wenn du es einigermaßen verdaut hast, können wir uns in Bewegung setzen und in den Südwesten unserer lieben Stadt fahren.«
»Dort wohnen die Künstler?«
»Ja, in einem Industriegebiet.«
Suko grinste. »Dort stören sie wenigstens niemanden. Die Müllkippe liegt aber weiter weg.«
»So ist es.«
»Hätte ja sein können, daß sich die eine oder andere Puppe zu einem Betriebsausflug entschlossen hat.«
»Keine Ahnung. Ich jedenfalls weiß nicht, wie die Puppe auf die Kippe gekommen ist, aber wir können auch Glück haben. Mal hören, was uns die Künstler sagen.«
Suko stand schon auf. »Umziehen möchtest du nicht vorher?«
»Nein.«
»Dann werde ich mir eine Gasmaske holen.«
»Ich habe eine bessere Idee.«
»Welche?«
»Hol dir aus der Kantine einen Topf mit Essen und stell ihn während der Fahrt auf deinen Schoß.«
»Sehr witzig…«
***
Alice wußte nicht, wie lange sie auf dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch gesessen hatte, und sie konnte sich auch nicht daran erinnern, das schwarze Buch wieder aufgehoben und mit an den Schreibtisch genommen zu haben.
Die erst kurz zurückliegende Vergangenheit war für sie wie in einen Nebelschleier getaucht, aus dem sich nur allmählich und bruchstückhaft die Teile der Erinnerung hervorhoben.
Alice hatte Besuch bekommen, das stand fest. Besuch aus einer anderen Welt, aus einem anderen Reich, das nicht sichtbar war und eigentlich nur in ihren Träumen und in den entsprechenden Büchern existierte. Die meisten Menschen glaubten nicht an diese Märchen- und Legendenreiche, aber sie ja, sie hatte immer daran geglaubt, und sie hatte jetzt auch den Beweis erhalten.
Es gab die andere Welt hinter dem Spiegel, über die sie schon bei ihrer Namensvetterin gelesen hatte. Der Puppendoktor mußte einfach aus dieser Welt gekommen sein, für Alice gab es keine andere Lösung. Er hatte sie verlassen, um einen Blick in das Zimmer eines verträumten und den Märchen ergebenen Mädchens zu werfen. Er war jemand, der sich offenbart hatte, ausgerechnet ihr, und weil dies so war, so dachte sie, mußte sie auch einen Weg gefunden haben, um mit der anderen Welt eine Verbindung auf nehmen zu können.
Durch Träume?
Durch Lesen?
Durch sich hineinversenken in die anderen Geschichten, in die Märchen, zusammen mit ihren Puppen!
Puppen!
Plötzlich verließ Alice die Starre. Genau das war es, die Puppen! Sie hatten die Brücke geschaffen, sie waren es gewesen, die ihr diesen Weg ermöglichten. Sie standen überall in ihrem Zimmer, sie hatte alles sehen und beobachten können. Vielleicht war ihnen der Puppendoktor sogar bekannt vorgekommen.
Hatten sie ihn geholt?
Alice krauste die Stirn und überlegte. Dabei schaute sie aus dem Fenster. Sie sah den normalen Garten, der erst langsam erblühen würde, und anschließend würde er sich wieder in ihre wunderbare
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