0905 - Puppenterror
werden. Er wird sicherlich wieder seine Säge aus der Tasche holen, um ihnen die Köpfe, die Arme und die Beine abzusägen. Er ist nämlich gar kein richtiger Doktor, er ist böse, sogar sehr böse. Er ist ein Zauberer, der alle verwandelt und verzaubert. Ich habe vor ihm Angst.«
»Dann weiß ich eine gute Lösung für dich.«
»Das wäre toll.«
»Ich bin gleich auf dem Tennisplatz verabredet. Wie wäre es denn, wenn du mich begleiten würdest? Ich kann dir versichern, daß niemand, auch kein Puppendoktor die Halle betreten wird, wenn wir es nicht wollen.«
Alice tat erstaunt. »Ich soll mitkommen?«
»Ja.«
»Das ist mir zu langweilig.«
»Warum?«
»Ich mag kein Tennis.«
»Du kannst dich ja in das kleine Café neben der Halle setzen und ein Eis essen.«
Alice leerte ihren Teller. Die letzten Krümel spülte sie mit einem Schluck Kakao hinunter. »Nein, das will ich auch nicht. Das ist irgendwie blöde.«
Grace hob die Schultern. »Es tut mir echt leid, mein Kind, dann weiß ich auch nicht, was ich dir noch vorschlagen soll.«
»Ich bleibe hier.«
»Ach«, sagte ihre Mutter erstaunt und blieb neben der offenen Tür zur Spüle stehen. »Auf einmal? So plötzlich hast du keine Angst mehr vor dieser Gestalt? Wie soll ich denn das verstehen? Du willst tatsächlich hier bei mir bleiben, trotz des Puppenmonsters?«
Alice nickte.
»Warum denn?« Mit dem Fuß drückte Grace die Tür zur Spülmaschine wieder zu.
»Daß ich keine Angst habe, Mum, das habe ich nicht gesagt.«
»Du willst aber hier im Haus bleiben?«
»Klar.«
Die Antwort klang zwar forsch, aber Grace hatte das leichte Zittern schon herausgehört. Sie dachte kurz nach. Zwingen konnte sie ihre Tochter nicht, das war unmöglich. Und wenn Alice dennoch mit ihr ging, würde sie sich verhalten wie ein trotziges Kind und an nichts Spaß haben. Zudem dachte Grace auch an die anderen Frauen im Verein. Wenn die sahen, wie wenig Spaß Alice auf dem Platz hatte, würden sie wieder tratschen und ihr erzählen, wie toll es doch ihre Kinder fanden, wenn sie von der Mutter mit zum Spiel genommen wurden.
»Es ist gut«, sagte die Frau und hob die Schultern. »Zwingen kann ich dich nicht.«
»Du bist ja bald wieder zurück.«
»Das stimmt.« Sie stand schon an der Tür. »Ich muß mich nur kurz umziehen.«
Alice schaute ihrer Mutter nach, wie sie die Küche verließ, und sie dachte darüber nach, ob sie richtig gehandelt hatte. Man glaubte ihr nicht, das stand fest. Alice machte der Mutter auch keinen Vorwurf. Sie an ihrer Stelle hätte ebenso gehandelt. Es war so gut wie unmöglich, daß eine Gestalt aus einem Buch oder Märchen plötzlich erschien, auch wenn sie sich nur im Spiegel gezeigt hatte. Im Buch war der Puppendoktor auch noch vorhanden gewesen, da hatte das Mädchen extra nachgeschaut. Er war also nicht aus dem Buch verschwunden und in den Spiegel eingedrungen. Das gab es nicht.
Wie war es dann zustande gekommen?
Gab es zwei Puppendoktoren?
Alice war mit ihren Überlegungen so weit gekommen, als die Mutter zurückkehrte und noch einen letzten Blick in die Küche warf. Grace hatte sich umgezogen. Sie trug den roten Jogginganzug mit den weißen Streifen an den Seiten. Ein ebenfalls rotes Band war um ihre Stirn geschlungen, und die Tasche mit den Schlägern und anderen Dingen, die sie so brauchte, Erfrischungswasser inbegriffen, hing über ihrer Schulter.
Alice lief auf die Mutter zu, die sich bückte und der Tochter noch zwei Küsse auf die Wangen drückte. »Bis gleich dann«, sagte sie, lächelte und hob einen Finger. »Nimm dich in acht vor irgendwelchen Puppendoktoren, Kleines.«
War dieser Rat der erwachsenen Frau spöttisch gemeint, so klang die Antwort des Mädchens durchaus ernst. »Ich werde mich darum bemühen, Mum, das verspreche ich.«
»Okay, dann.«
Alice begleitete ihre Mutter noch bis zur Haustür. Sie blieb auch stehen, um zu sehen, wie Grace in den weinroten Polo stieg und startete. Als sie nahe der Tür vorbeirollte, winkte sie Alice noch einmal zu. Hinter den getönten Scheiben sah die wegfahrende Frau au, wie ein graues Schattengespenst.
Alice atmete tief durch. Sie runzelte die Stirn und räusperte sich die Kehle frei, bevor sie wieder zurück in das Haus ging, das ihr plötzlich so groß und auch so einsam vorkam.
Mit dem Rücken zur Tür blieb sie stehen und nagte auf ihrer Unterlippe. Hatte sie etwas falsch gemacht? Wäre es nicht doch besser gewesen, die Mutter zu begleiten? Sie konnte ja hinter ihr
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