0905 - Puppenterror
herlaufen, es war nicht zu weit bis zum Platz, und wenn sie das Rad nahm, dann ging es noch schneller.
Sie tat es eicht. Alice wollte sich keine Blöße geben und der Mutter auch den Triumph nicht gönnen.
»Nein«, sagte sie, wobei sie mit dem linken Fuß aufstampfte. »Ich bleibe im Haus.«
Viel hatte ihr diese Geste auch nicht gebracht und schaute auf die dunklen Fliesen mit den farblich unterschiedlichen Schattierungen, die für Alice in diesen Augenblicken allesamt ein Eigenleben bekommen hatten. In ihrer Phantasie stellte sie sich vor, daß sich die Einschlüsse in Schlangen oder dicke Würmer verwandelten und lautlos durch das Gefüge der Steine huschten, immer auf der Suche nach einer schnellen Beute.
Sie schüttelte sich, hob ein Bein an und setzte den Fuß so vorsichtig auf, als würden sich ihre traumatischen Einbildungen erfüllen. Es blieb alles normal, aber der Puppendoktor im Spiegel, der war nicht normal gewesen, den hatte sie sich auch nicht eingebildet, da konnte ihre Mutter sagen was sie wollte.
Wohin sollte sie gehen?
Zurück in ihr Zimmer oder im großen Wohnraum bleiben, wo auch die Glotze stand?
Ja, die Idee war gar nicht mal schlecht. Sie würde die Glotze einschalten, die Kanäle durchzappen und sich irgendeinen Kanal suchen, dessen Programm ihr gefiel. Bestimmt liefen irgendwo die Flintstones, Bugs Bunny oder irgendwelche Serien über Superhelden, die mal lässig und locker wieder die halbe Menschheit retteten.
Für diese Art Trickfilme hatte Alice nie etwas empfunden. Wenn sie sich ein Kinderprogramm anschaute, dann liebte sie die Aufführungen der Marionettenbühnen. Da waren die Figuren zwar auch nicht echt, aber sie lebten trotzdem, zumindest hatten die Künstler es geschafft, ihnen einen gewissen Ausdruck zu verleihen, was bei den billig produzierten und modernen Trickfilmen aus Japan nicht der Fall war.
Also ins Wohnzimmer und nicht in ihres.
Sie öffnete die Tür. Der Raum kam ihr groß vor, vielleicht auch deshalb, weil das breite Fenster zum Garten hinauszeigte. Zu den Steinfliesen paßten die Sessel aus Büffelleder, und auch die wollenen, dicken Teppiche trafen genau den Geschmack. Die Stollenregalwand - kein Schrank - hatte Alices Vater selbst gebaut und dann mit grünbrauner Farbe angestrichen. In einem dafür vorgesehenen Regal stand auch die Glotze. Unter ihr, durch ein Regalbrett getrennt, ein Videorecorder, daneben die schwarze Musikanlage.
Die Fernbedienung lag auf dem Apparat. Alice holte sie, ging mit ihr bis zu einem Sessel und ließ sich hineinfallen. Er war viel zu breit für ihre schmale Gestalt, aber er stand günstig zum Apparat, und auf den Teppich wollte sie sich nicht legen.
Sie drückte auf den Knopf und sah eine Sekunde später das Bild. Und da erkannte sie ihn auch schon.
Plötzlich schlug ihr Herz wie irre.
Dieser Schatten, nein, dieser Mann, es durfte nicht wahr sein, wie er sich da vor einem blassen Hintergrund abzeichnete!
Er war es!
Sie schrie und sah das breite Grinsen auf dem Gesicht des Puppendoktors…
***
Aus Alices Mund drang ein leises und gequältes Seufzen. Es hörte sich an, als hätte sie aufgegeben oder sich in ihr Schicksal ergeben. Die Arme hatte sie auf die für sie zu breiten Lehnen des Sessels gelegt. Ihre Hände waren um das Holz verkrampft.
Der Bildschirm kam ihr plötzlich so groß vor, obwohl er tatsächlich nicht gewachsen war. Beherrscht wurde das Rechteck von dieser Gestalt, dem Puppendoktor, der es nicht lassen konnte, auch weiterhin zu grinsen. Er hatte seinen Spaß, wie jemand, dem es endlich gelungen war, etwas Bestimmtes zu tun.
Alice hatte diesmal die stumme Rolle übernommen. Bei der ersten Begegnung war es umgekehrt gewesen, da hatte Doctor Doll geschwiegen, nun aber hatte er seinen Spaß. Es blieb bei ihm nicht beim Grinsen, er redete sogar. »Hier bin ich wieder, kleine Alice! Freust du dich denn nicht, daß du mich endlich wiedersiehst? Du kennst mich doch. Du hast mich in deinem Buch gesehen. Habe ich dir nicht gefallen?«
Alice schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?«
Sie schwieg.
Der Puppendoktor grinste wieder. Aus seinen kleinen Glitzeraugen schaute er das Mädchen an. Es hätte Alice nicht gewundert, wenn sie sein Blick mitten in die Seele getroffen hätte. Vor dieser Gestalt konnte sie einfach nichts verbergen. Er war so schlimm, so sezierend, er traf sie unwahrscheinlich tief. Sie fühlte sich durch ihn entblößt, und sie kam sich vor wie jemand, der fror und zugleich schwitzte, so daß sie
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