0906 - Das Vermächtnis der Hexe
Marktbesucher durch die Gegend rennen, sondern er!
S-T-O-P-P!!!
Nichts!
Der Professor spürte, wie die Magie des Amuletts auf seine Kräfte zugriff und sie verschlang wie ein hungriger Wolf. Und da war noch etwas anderes: Er spürte eine fremde und doch vertraute Präsenz. Trotz der Kälte perlten erste Schweißtropfen über seine Stirn.
Stopp! In Gottes Namen, bitte halt an! Merlin, hilf mir!
Doch Merlin war tot und konnte ihm nicht mehr helfen. Nie mehr.
Zamorra wollte das Amulett loslassen. Sollte es doch zu Boden fallen, in den Dreck, auf die Straße, egal! Hauptsache, die Zeitschau nahm endlich ein Ende. Aber seine Finger verkrampften sich und klammerten sich um Merlins Stern . Die Knöchel traten weiß hervor und dort, wo die Kante der magischen Scheibe in Zamorras Fleisch drückte, zeigten sich erste blutige Striemen.
Stopp!
Der gedankliche Ruf war nur noch ein Flüstern. Noch immer rasten die Bilder durch Zamorras Hirn. Er vermochte nicht abzuschätzen, mit welcher Geschwindigkeit die Zeitschau ablief. Das Zwanzigfache des normalen Tempos? Das Dreißigfache? Wie lange würde es dauern, bis er die selbst gesetzte Achtstundengrenze überschritt? Wie lange, bis er die 24 Stunden erreicht hatte? Und wie lange, bis seine Kraft versagte, bis ihn das Amulett ausgesaut hatte wie ein Vampir?
Er wusste es nicht.
Aber so wie es aussah, würde er es bald erfahren.
***
Rhett nahm die Hände von den Augen und versuchte, die Schlieren wegzublinzeln, die durch die nunmehr hell erleuchtete Landschaft schwebten.
Das Licht war nicht so grell, wie er noch vorhin vermutet hatte. Es war ihm nur so vorgekommen, weil er genau in die Quelle der Helligkeit geschaut hatte.
Er erinnerte sich daran, wie er als vier- oder fünfjähriger Junge einmal direkt in die Sonne gesehen hatte, weil er gehofft hatte, Gott dahinter zu entdecken. Der Butler William hatte das glücklicherweise mitbekommen und ihn von seinem gewagten Plan abgehalten. Mit netten, aber doch eindringlichen Worten hatte er Rhett erklärt, dass man nie, nie, nie in das grelle Licht der Sonne schauen durfte, wenn man nicht riskieren wollte, danach gar kein Licht mehr zu sehen, weil man blind geworden war. Rhett hatte ihm geglaubt, denn obwohl es nur der Bruchteil einer Sekunde gewesen war, den er seine Augen dem Licht ausgesetzt hatte, waren noch Minuten später graue Flecken und Schatten durch seine Wahrnehmung geschwommen.
Dieselben Flecken und Schatten sah er auch jetzt wieder, doch nach und nach klärte sich sein Blick.
Er zwinkerte ein paar Mal, um die letzten Schlieren zu vertreiben. Dann hob er den Kopf und sah sich um.
Wie er nun erkennen konnte, hatte er mit seinen bisherigen Vermutungen recht gehabt: Es waren tatsächlich keine Zeichen des Winters erkennbar, und Neufeld, die Weltstadt mit Herz, bestand wirklich nur aus Bahnhof.
So weit das Auge reichte, sah er Nadelwälder und vereinzelte Laubbäume, die alle noch ihre Blätter trugen. Neufeld lag trotz seines Namens also offenbar nicht im vom Winter heimgesuchten Mitteleuropa. Doch es gab noch etwas anderes, ungleich Eigenartigeres, das ihn davon überzeugte, dass es nicht einmal auf dieser Welt lag.
Der Himmel war schwarz!
Es war taghell, die Sonne stand genau über ihm und dennoch war dieser dämliche Himmel so schwarz wie Zamorras stärkster Kaffee!
War das überhaupt die Sonne? Seit wann pflegte die aufzuflammen wie ein eingeknipster Halogenscheinwerfer? Und was war mit dieser fiesen Stimme, die er gehört hatte?
Oder einfacher gefragt: Was zum Teufel war hier los?
Rhett stand auf und wischte mit einer automatischen Bewegung den Dreck von den Knien.
Die Situation war so bizarr, dass die Panik, die ihn noch im Zug überfallen hatte, verschwunden war. Dies hier musste ein Traum sein. Natürlich, was sonst? Also brauchte er nur abzuwarten, bis er wieder aufwachte. Gar kein Thema!
Wenn da nur nicht diese leise Klugscheißerstimme in seinem Hinterkopf gewesen wäre, die ihm immer wieder zuflüsterte, dass man im Traum gar nicht weiß, dass man träumt.
War das wirklich so? Hatte er schon jemals geträumt und war sich dessen bewusst gewesen? Er konnte sich nicht erinnern. Offenbar war das eines seiner Hauptprobleme in der letzten Zeit!
Wie auch immer! Er konnte noch stundenlang hier stehen und über die Eigenarten von Schlafphasen philosophieren, seine Lage würde das nicht verbessern.
Rhett ging langsam auf das Bahnhofsgebäude zu.
Sein Blick fiel auf das Glotzauge der großen Uhr. Fünf
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