0906 - Das Vermächtnis der Hexe
Minuten vor vier. Immer noch.
War die Uhr stehen geblieben? Oder gar die Zeit?
Da erst erkannte er, dass die Zeiger sich gar nicht bewegen konnten, weil sie auf das Zifferblatt aufgemalt waren. Die Uhr stammte aus der gleichen Packung lustiger Mogeleien wie die Klotüren im Zug.
Rhett fehlten also keineswegs zehn Stunden, wie er vorhin noch vermutet hatte. Wahrscheinlich waren es viel weniger. Vielleicht waren es aber auch viel mehr…
Er legte die letzten Schritte bis zum Gebäude zurück, ging zur linken der vier Türen und wollte den Griff herunterdrücken.
Es ging nicht. Er bewegte sich keinen Millimeter.
Natürlich nicht!
Gab es auf diesem Scheißbahnhof eigentlich etwas, das keine Attrappe war?
Er probierte auch die anderen drei Türen - mit dem gleichen Ergebnis.
Rhett drehte sich um. Er schlurfte zu den Sitzbänken und ließ sich darauf nieder.
Langsam gingen ihm die Ideen aus! Das Handy hatte er zu Hause gelassen, eine Telefonzelle hatte er auf dem Bahnsteig nicht entdeckt. Dabei wusste er nicht einmal, ob er sich darüber grämen oder freuen sollte. Hätte er nämlich ein Telefon gefunden und dann festgestellt, dass auch das nicht echt war - er wusste nicht, wie er mit dieser Enttäuschung hätte umgehen sollen!
Das war auch der Grund, warum sich etwas in ihm sperrte, das Bahnhofsgebäude zu umrunden und zu erforschen, ob es auf der anderen Seite etwas gab, was ihm helfen könnte. Er hatte Angst vor dem, was er finden - oder besser: was er nicht finden würde. Wer wusste es schon, vielleicht gab es ja nicht einmal eine Welt jenseits des Hauses! Vielleicht lauerte dort nur tiefe, gierige Schwärze mit riesigen Reißzähnen, die nur darauf wartete, ihn zu verschlingen! Oder ein augenloser Dämon mit gespaltener Unterlippe.
Plötzlich war da wieder die Erinnerung, die vor wenigen Stunden im Château Montagne in ihm erwacht war.
Oder vor vielen Stunden, einer halben Ewigkeit oder wann auch immer. Er wusste ja nicht einmal, wie spät es war! Eine Armbanduhr trug er nur manchmal, weil er die Zeit auch auf seinem Handy ablesen konnte. Das hieß, wenn er es dabei hatte!
Mann, du bist echt voll bescheuert, Alter!
Hatte seine Reise in diese merkwürdige Welt mit ihrem schwarzen Himmel etwas mit dem Dämon zu tun? Hatte der Rhett zu sich geholt? Doch warum zeigte er sich dann nicht? Und würde die Welt eines Dämons ausgerechnet aus einem Bahnhof bestehen, der Neufeld hieß?
Nein, daran mochte Rhett nicht glauben. Seine Erinnerung an den Augenlosen und sein Abstecher in die Welt der gemalten Uhren hatten vermutlich nichts miteinander zu tun.
Wenn er wenigstens seine Llewellyn-Magie irgendwie einsetzen könnte! Aber dazu hätte er sie erst einmal beherrschen müssen.
»So ein Dreck!«, schimpfte er.
Jetzt hör auf, dich zu bemitleiden! Versuchen geht über fluchen, oder wie das Sprichwort heißt! Also probier's aus!
Da war etwas Wahres dran! Immerhin war hier niemand in der Nähe, dem er versehentlich einen merkwürdigen Berufswunsch ins Bewusstsein zaubern konnte.
Er atmete tief durch und schloss die Augen.
Zamorra? Kannst du mich… hören?
Rhett versuchte, mit einigen charakteristischen Merkmalen ein möglichst genaues Bild des Professors in seiner Vorstellung zu zeichnen. Graue Augen, weißer Anzug, das Amulett vor der Brust.
Zamorra? Wenn du mich hörst: Ich brauche deine Hilfe!
Er konzentrierte sich voller Verbissenheit auf den Parapsychologen. Er bemerkte dabei nicht einmal, dass er die Kiefer so fest aufeinander presste, dass seine Zähne knirschten. Die Augenbrauen zog er so weit zusammen, dass sie sich beinahe berührten.
Hallo? Zamorra? Ich brauche Hilfe.
Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass sein Ruf empfangen wurde. Rhett wusste allerdings auch nicht, wie solche Anzeichen hätten aussehen sollen.
Ich stecke hier in irgendeiner merkwürdigen Welt fest! Da ist ein Bahnhof und der Himmel ist schwarz. Der Ort heißt Neufeld. Die Toilettentüren waren nicht echt und die Uhr auch nicht.
Er bemerkte, dass er zusammenhanglos vor sich hin faselte! Wie sollte Zamorra ihn finden, wenn er ihm so wirre Informationen gab? Falls er ihn überhaupt hörte!
Du musst irgendetwas tun, wenn du mich hörst. Vielleicht kannst du…
STOPP!
Rhett zuckte zusammen und schnappte nach Luft. Er hatte Kontakt! Auch wenn er sie nicht wirklich mit den Ohren gehört hatte, so war dies doch ganz eindeutig Zamorras Stimme gewesen.
Zamorra? Du kannst mich hören? Ich bin ja so froh!
Was geschieht hier?
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