0906 - Das Vermächtnis der Hexe
erreichte einen Schaukasten, in dem der Fahrplan ausgehängt war - oder das, was diese ach so drollige Flunkerwelt dafür hielt! Denn das, was auf den ersten Blick aussah wie schwarze Buchstaben, die auf dem gelblichen Papier zu informativen Wörtern aneinandergereiht waren, war nichts anderes als eine Ansammlung unlesbarer Zeichen. Lächerliche Krakel, bedeutungslose Schmierereien, die ein Kind in ein Bild malen mochte, wenn es des Schreibens noch nicht mächtig war, aber den Anschein von Schrift erwecken wollte.
In diesem Augenblick rollte die Wut wie eine Feuerwalze über Rhett hinweg.
Mit der flachen Hand schlug er auf die Glasscheibe ein, die sich nach dem ersten Schlag als Plastikscheibe entpuppte.
»Was soll ich jetzt tun?«, plärrte er.
Er landete den nächsten Schlag und danach gleich noch einen.
»Warum hilft mir niemand?«
Und noch ein Hieb. Die Handfläche begann zu brennen, doch das störte Rhett nicht. Er schlug ein weiteres Mal zu.
»Ich - brauche - Hilfe!«
Da geschah es wieder! In die vorgetäuschten Buchstaben kam Bewegung. Sie begannen zu fließen und tanzen. Beinahe wie Wassertropfen auf einer heißen Herdplatte oder wie Quecksilbertröpfchen. Immer wenn sich zwei der Buchstaben berührten, verschmolzen sie zu einem größeren Klecks.
Wie damals bei dem Tintenfleckdämon!
Plötzlich war die Wut wie weggeblasen. Im Nachhinein kam sie Rhett völlig überzogen und… pubertär vor.
Oh nein! Das hab ich nicht gewollt! Das kann ich jetzt gerade noch gebrauchen: einen weiteren Dämon, der mir das Leben schwer macht!
Nach und nach vereinten sich die kleinen und großen Flecken zu einem einzigen schwarzen Schemen. Gott sei Dank war er hinter der Plastikscheibe des Schaukastens gefangen!
Nein, war er nicht!
Der Schaukasten war nicht vollständig dicht und so rann die schwarze Masse als zähflüssiger Faden zu Boden.
Rhett machte einen Schritt zurück. Krampfhaft versuchte er sich zu erinnern, wie der Tintenklecksdämon damals besiegt worden war. Die Katze! Die, die monatelang immer wieder im Château Montagne aufgetaucht war und sogar durch Wände und Türen gehen konnte! Sie hatte den Dämon verletzten können!
Doch dies war, soweit er sich erinnern konnte, zugleich das letzte Mal gewesen, dass er die Katze gesehen hatte. Er wusste nicht einmal, ob sie noch existierte. Zamorra hatte vor kurzem erst seine Vermutung geäußert, dass es sich bei ihr um eine Inkarnation Merlins gehandelt haben könnte. Falls er damit richtig lag, was war nach dem Tod des Zauberers dann mit ihr geschehen?
Und warum machte er sich gerade jetzt darüber Gedanken? Hatte er keine anderen Probleme?
Der Fleck auf dem Boden wirkte auf Rhett wie Teer, wenn man einmal von der geringfügigen Tatsache absah, dass Teer sich nicht bewegen oder aufrichten konnte. Der Fleck auf dem Boden konnte es allerdings!
Erst floss er einen Meter weit auf Rhett zu, dann wuchs aus ihm eine Gestalt in die Höhe, die entfernt menschliche Umrisse hatte.
Vor einigen Jahren hatten Rhett und Fooly im Château einmal Schlossgespenst gespielt. Dazu hatten sie sich sehr zum Missfallen von Butler William frisch gewaschene Bettlaken übergezogen und waren unter lauten Huuuh -Rufen durch die Gänge gezogen. Ungefähr wie sie damals sah nun das Teermonster aus. Natürlich nur in Schwarz!
Als es sich zu voller Größe aufgerichtet hatte, überragte es Rhett um einen Kopf. Zu allem Überfluss hob es nun auch noch die »Arme«. Fehlte bloß noch, dass es Huuuh machte!
Rhett taumelte einen weiteren Schritt zurück.
»Lass mich in Ruhe!«, brüllte er, wohl wissend, dass das einen Dämon nicht allzu sehr beeindrucken würde. »Hau ab!«
Doch dann geschah etwas, mit dem Rhett niemals gerechnet hätte! Das Teermonster zuckte zurück, fiel in sich zusammen, glitt als schwarze Pfütze über den Bahnsteig und verschwand im angrenzenden Wald.
Rhetts Unterkiefer sank herab. Wie konnte das…?
Aus dem Augenwinkel sah er auf der anderen Seite einen Schatten über den Bahnsteig huschen und hinter dem Eck der Bahnhofshalle verschwinden.
Rhett fuhr herum.
War das das Teermonster gewesen? Nein, wie hätte es so schnell dorthin kommen sollen?
Aber da war etwas gewesen! Oder jemand! Und das hieß: Er war vielleicht doch nicht alleine.
Unwillkürlich drängte sich der augenlose Dämon mit der gespaltenen Unterlippe in sein Bewusstsein, doch Rhett verwarf den Gedanken sofort wieder.
»Hallo?«
Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er konnte es sogar in den
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