0906 - Das Vermächtnis der Hexe
seit über vierhundert Jahren und er konnte sich nicht wehren, weil er von ihr abhängig war. Sie waren Zwillinge, gezeugt von einem Schwarzmagier, geboren von einer Hexe in einer Neumondnacht. Das war es wenigstens, was Henriette immer erzählte.
Allzu viel hatte Matthias aber nicht davon, denn das Schicksal hatte sich entschlossen, alle magischen Kräfte alleine Henriette zu verleihen. Zum Ausgleich dafür war er nur bis zum sechzigsten Lebensjahr gealtert, während Henriette alle paar Monate frisches, junges Leben brauchte, um den Verfall ihres Körpers rückgängig zu machen.
Andererseits war seine Langlebigkeit an Henriettes Leben geknüpft. Starb sie, starb auch er. Er wusste nicht, warum das so war, ja, er wusste nicht einmal, ob es tatsächlich so war. Aber er hatte keinen Grund, an Henriettes Worten zu zweifeln, also half er ihr nach Kräften.
Gelegentliche Beleidigungen und Schläge waren ein geringer Preis für die Unsterblichkeit, wie er fand.
»Wo bist du denn?«, rief er.
»Links neben dir! Und hör gefälligst mit dem Geplärre auf. Das zerfetzt einem ja das Trommelfell!«
Links neben ihm? Matthias drehte sich zur Seite. Unter seinen Füßen hörte er die Asche knirschen. Er musste mit seinem letzten Schritt hineingetreten sein.
Links neben ihm war niemand.
»Hör auf, deine Späße mit mir zu machen! Sag mir endlich, wo du bist!«
»Mach deine Augen auf, du minderbemittelter Nichtsnutz!«
»Aber da ist wirklich nichts!« Seine Stimme klang schon fast weinerlich. »Nur der Setzkasten mit…«
Ach herrje!
»Henriette? Bist du das?«
Das Püppchen der lächelnden, pausbäckigen Magd glotzte ihn mit weißem Porzellangesicht an und ruderte mit den Armen.
»Na endlich!«, sagte die Magd mit Henriettes Stimme. »Da sieht ein Maulwurf besser als du!«
»Was… was ist mit dir passiert?«
»Das werde ich dir erzählen. Aber nimm vorher gefälligst den Fuß aus meiner Asche, du Trampel!«
Mit jedem Wort von Henriettes Bericht verzog sich Matthias' Gesicht mehr zu einer entsetzten Grimasse.
»Aber… aber du… du kannst den Zauber doch sicher rückgängig machen«, stammelte er, als seine Schwester zum Ende gekommen war.
»Hast du mir nicht zugehört oder bist du nur zu blöd, mich zu verstehen?«, fuhr ihn die Puppe mit ihrer Flüsterstimme an. »Ich war in Panik! Mir ist in der Eile kein anderer Zauber eingefallen. Natürlich kann ich ihn rückgängig machen, aber erst in zweihundert Jahren! Das gelingt aber nur dann, wenn ich drei Kindern ihre reinen Seelen raube. Schaffe ich das nicht, muss ich noch einmal zweihundert Jahre bis zum nächsten Versuch warten.«
»Aber wie soll das gehen? Du bist so… nun ja, wie soll ich sagen? Du bist eben so… so…«
»Was?«
»… klein!«
»Was du nicht sagst! Das ist mir auch schon aufgefallen! Manchmal frage ich mich, ob Mutter mich belogen hat und wir doch keine Geschwister sind. Wie kann ich nur einen so einfältigen Bruder haben? Hättest du jetzt vielleicht endlich mal die Güte, mich aus diesem Setzkasten zu befreien? Bring mich an einen Ort, an dem ich mehr Platz und Ruhe zum Nachdenken habe. Das Puppenhaus neben der Ladentür wäre gut.«
Matthias griff mit zittrigen Fingern nach der Porzellanmagd.
»Sei doch vorsichtig, du Tölpel! Lass mich bloß nicht fallen, denn das wäre auch dein Ende! Oder hast du das etwa vergessen?«
»Nein. Natürlich nicht. Entschuldige.«
Matthias setzte Henriette in das kleine, spärlich ausgestattete Puppenhaus, das seine Schwester vorhin aus dem Schaufenster genommen hatte.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte er.
»Das will ich dir sagen. Ich werde nachdenken und du hältst die Klappe!«
Also hielt Matthias die Klappe und Henriette dachte nach.
Sie dachte lange nach, sehr lange! Mehrere Jahre; um genau zu sein.
Schon am nächsten Tag packte Matthias seine Siebensachen und seine Schwester zusammen, gab den Laden auf und zog in eine andere Stadt. Als er im Jahr 1837 dann bereits zum vierten Mal alle Zelte hinter sich abbrach und das Geschäft woanders eröffnete, überlegte Henriette immer noch. Ihr neuer Körper lebte inzwischen in einem größeren Puppenhaus. Jeden Tag baute Matthias neue Möbel und schneiderte neue Kleidchen.
Das Problem war, dass Henriettes Magie und ihre Kräfte genauso geschrumpft waren wie ihre Körpergröße. Schleuderte sie einem normalen Menschen einen Zauberspruch entgegen, der ihn sonst verbrannt hätte, so würde ihr Opfer nun nur ein lästiges Brennen und Jucken
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