0906 - Das Vermächtnis der Hexe
Professor Zamorra zur Quelle geführt, der - soweit er wusste - der einzige Auserwählte war, der sich diesem Zwang widersetzt hatte. Er hatte die Hüterin der Quelle ausgetrickst, wurde aber dennoch relativ unsterblich. Sogar Wasser von der Quelle des Lebens hatte er mitgenommen, um auch seine Gefährtin Nicole Duval davon trinken zu lassen.
Rhett schnaufte tief durch. Er bemerkte, wie das Herz seinen Höllenritt beendete und zu einem normalen Schlagrhythmus überging. Die Tränen versiegten.
Also, noch mal ganz von vorne: Wo bin ich? Warum bin ich hier? Und wie bin ich hierher gekommen?
Er schloss die Augen. Er musste sich doch an die paar Minuten erinnern können, die vor dieser merkwürdigen Zugfahrt lagen! Seit Monaten erinnerte er sich nach und nach an seine früheren Existenzen. An Leben, die Hunderte, ja Tausende von Jahren zurücklagen. Da würde er doch an ein paar lächerlichen Minuten nicht scheitern, du liebe Zeit!
Plötzlich sah er Bilder vor sich, wie er schon einmal in einem Zug gefangen gewesen war. Damals hatte Lucifuge Rofocale ihn in die Hölle entführt, um…
Halt! Er hat nicht dich entführt, sondern dein früheres Ich, Sir Bryont. Schön, dass dir das jetzt wieder einfällt, das bringt dich aber nicht wirklich weiter!
Ruhig! Ganz ruhig. Was ist passiert? Nicht damals, vor langen, langen Jahren, sondern vorhin. Was - ist - passiert?
Tatsächlich erschienen andere Bilder vor seinem inneren Auge. Bilder von Ereignissen, die sich erst vor wenigen Stunden abgespielt hatten.
Und die Erinnerungen begannen mit Erinnerungen…
***
Einige Stunden vorher
Rhett lag auf dem Bett. In den Ohren hatte er die Stöpsel seines MP3-Players, der ihm immer und immer wieder das gleiche Lied vorspielte.
This is the life von Amy Macdonald.
Seine Augen standen offen und starrten blicklos gegen die Wand, wo er vor ein paar Monaten versehentlich einen Dämon erschaffen hatte. Er war furchtbar wütend gewesen, auch wenn er jetzt nicht mehr sagen konnte worüber. In seinem Zorn hatte er ein Tintenfass gegen die Wand geschleudert und dabei dem Tintenfleck mit seiner erwachenden Llewellyn-Magie offenbar Leben eingehaucht. Von der Wut seines Schöpfers getrieben, war das eigenartige Wesen durch das Château gezogen und wäre William, dem Butler, und Madame Claire, der Köchin, beinahe zum Verhängnis geworden.
Obwohl diese Kreatur ein gefährlicher Dämon gewesen war, hatte Rhett nach dessen Vernichtung ein flaues Gefühl im Magen gehabt. Schließlich war das Tintenklecksmonster sein Geschöpf gewesen.
Er fragte sich, ob er unter anderen Umständen auch ein positives Wesen hätte erschaffen können. Wozu befähigte ihn seine Magie überhaupt?
Er wusste es nicht. Noch nicht!
Doch irgendwann würde die Llewellyn-Magie vollständig erwachen und nicht nur wie gelegentliche Blitze bei Rhett einschlagen.
Immer wieder hatte er versucht, willentlich seine Kräfte anzuwenden, doch nur in den seltensten Fällen war es gelungen - und selbst in denen nicht immer mit dem gewünschten Ergebnis. Gestern beispielsweise hatte er mit Fooly eine sterbenslangweilige Reportage über die Pariser Feuerwehr im Fernsehen gesehen. Er hatte sich darauf konzentriert, alleine mit Gedankenkraft umzuschalten, doch es war ihm nicht gelungen. Also hatte er es noch einmal probiert und noch einmal und noch einmal. Und tatsächlich: Bei seinem letzten Versuch hatte er gefühlt, dass etwas passierte. Aber das Fernsehgerät war auf dem gleichen Sender stehen geblieben. Stattdessen war Fooly plötzlich aufgesprungen und hatte verkündet, irgendwann wolle er auch Feuerwehrmann werden. Stundenlang hatte Rhett ihn nicht mehr von diesem Gedanken abbringen können.
Rhett musste erkennen, dass er das Erwachen der Llewellyn-Magie nicht beschleunigen konnte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten und die Blitzeinschläge über sich ergehen zu lassen.
Und das galt nicht nur für seine Magie.
And you're singing the songs thinking this is the life.
Auch die Erinnerungen an seine früheren Leben tröpfelten nur nach und nach in sein Bewusstsein. Schlaglichtern gleich sah er einzelne Szenen: wie er als Coryn Saris die Schwertlady bedrohte und unterlag, oder wie er als Ghared Saris mit dem Druidenvampir Matlock McCain zu tun hatte. Aber an noch kein Leben konnte er sich in vollem Umfang erinnern. Das von seinem Vorgänger in der Erbfolge , Sir Bryont Saris, war ihm da noch am geläufigsten. Aber all die anderen davor? Schlaglichter, gelegentliche
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