0906 - Das Vermächtnis der Hexe
Tür zu gehen, wenn es nicht sein muss. Hast du übrigens die Zeitung gelesen?«
Zamorra warf ihr einen fragenden Blick zu. »Was denn da genau?«
»Da stand was über den Karnevalsmarkt von Lyon drin. Über zwei Kinder, die gestern verloren gegangen sind. Warte mal kurz.« Nicole stand auf und eilte aus dem Zimmer. Ein paar Minuten später kehrte sie mit einer zurechtgefalteten Tageszeitung zurück. »Hier: Seit gestern werden der 12-jährige Jack Logger und seine 10-jährige Schwester Margret vermisst. Die Kinder hatten mit ihren Eltern den alljährlichen Karnevalsmarkt in Lyon besucht. Die amerikanischen Touristen wollten einen unterhaltsamen Abend verleben, doch bereits nach wenigen Minuten gingen die Kinder im Menschengewühl verloren. Zeugen haben die beiden zuletzt vor dem Zelt eines Händlers gesehen, doch danach verliert sich ihre Spur.«
»Wie schrecklich!«, sagte Lady Patricia. »Die armen Eltern! Und natürlich die armen Kinder!«
Bevor auch Zamorra noch etwas dazu sagen konnte, kam Rhett wieder herein. »So, Fooly ist einigermaßen besänftigt. Von mir aus können wir gehen.«
***
Gegenwart
Richtig! Er war mit seiner Mutter und mit Professor Zamorra zum Karnevalsmarkt gegangen. Der Umzug war schon vorbei gewesen, aber bis zum Feuerwerk hatte es noch etwas gedauert. Es war furchtbar kalt gewesen, also hatten sie an einem Glühweinstand Halt gemacht.
Während Zamorra und Patricia dieses widerlich riechende Gesöff in sich hineingeschüttet hatten, hatte er sich etwas umgesehen und…
... dann war er in diesem Zug aufgewacht.
Aber was war dazwischen geschehen?
Hier klaffte noch eine große Lücke in seiner Erinnerung.
Also, was jetzt? Was sollte er nun tun, so mutterseelenalleine in einem fahrenden Zug?
Sein Blick tastete das Innere des Waggons ab. Die Frage war nicht nur, was er tun sollte , sondern vielmehr, was er überhaupt tun konnte . Wie kam er aus dieser…
Da! Die Notbremse!
Aber wenn die auch nur eine Attrappe ist? So wie die Toilettentüren!
Sieh nach, dann weißt du's!
Rhett rappelte sich hoch. Den roten, verführerischen Griff ließ er dabei keine Sekunde aus den Augen.
Man darf in einem Zug nicht die Notbremse ziehen!
Ach was! Wer will es dir denn verbieten? Der nicht vorhandene Schaffner auf dem nicht vorhandenen Klo hinter der nicht vorhandenen Tür? Außerdem bist du ja wirklich in Not!
Auch wieder wahr!
Mit entschlossenen Schritten ging er auf den Griff zu und streckte die Hand danach aus. Doch kurz bevor seine Finger das Metall berührten, (oder vielleicht doch nur Plastik?) huschte am Zugfenster ein Licht vorbei. Dann noch eines und noch eines.
Plötzlich bremste der Zug ab. Nicht so heftig, als hätte Rhett tatsächlich die Notbremse gezogen, sondern sanft und behutsam, als würde der Zug in einen Bahnhof einfahren.
Die Lichter!
Sie gehörten zu großen Masten, die die Strecke säumten, zu einer großen Werbetafel, auf der ein zahnlückiges Kind ein Eis am Stiel der Marke Schlurpi anhimmelte, (Schlurpi? Gab es wirklich ein Eis mit einem so bescheuerten Namen?) zu einem Haus aus hellen Steinen, vor dem eine Reihe ungemütlich aussehender Sitzbänke stand.
Der Zug fuhr tatsächlich in den Bahnhof ein!
Rhett atmete auf. Gleich würde diese absonderliche Reise enden und mit ihr hoffentlich auch dieser Albtraum!
Kaum hatte Rhett diesen Gedanken zu Ende gebracht, wusste er auch schon, dass es ganz so einfach wohl nicht werden würde. Etwas dort draußen jenseits des Fensters kam ihm… falsch vor. Er konnte nicht sagen, was es war, aber irgendetwas war ganz entschieden nicht in Ordnung.
Mit einem leichten Ruck kam der Zug zum Stehen.
Rhett bemerkte, dass er noch immer mit ausgestrecktem Arm dastand, die Fingerspitzen nur Millimeter vor dem Griff der Notbremse.
Er ließ den Arm sinken, schnaufte tief durch und ging zu der Tür, die aus dem Waggon führte. Nach draußen, in die Freiheit!
Tatsächlich?
Vielleicht war diese Tür genauso falsch wie die zu den Toiletten! Vielleicht waren nur die Glastüren zwischen den Waggons echt. Vielleicht gab es gar keine Welt mehr außerhalb dieses Zugs. Vielleicht war er der einzige Gefangene in einem magischen Kerker ohne Ausgang und würde hier die restlichen 251 Jahre seines Lebens verbringen müssen. Natürlich nur, wenn er nicht vorher verdurstete. Aber er wusste, dass mit Magie sehr viel möglich war - und jemanden über zweieinhalb Jahrhunderte ohne Wasser und Essen am Leben zu halten, gehörte sicherlich dazu.
War
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