0907 - Die blutenden Bäume
Hintergrund zu lesen.
Harry fuhr auf die rechte Seite. Die 100-Meter-Markierungen huschten an uns vorbei, danach die Kurve, die gelben Straßenschilder, die in verschiedene Richtungen wiesen.
Vor uns lag die Bundesstraße, auf der kaum Verkehr herrschte. Wir bogen ab nach Heroldsbach.
»Fast geschafft, und das ohne Stau.« Harry lächelte. »Man freut sich inzwischen immer, wenn man als Autofahrer nicht im Stau steckt. Deutschland ist dicht.«
»Wie auch unser Inselreich in den Ballungszentren.«
Die Straße lag glatt vor uns. Der unterbrochene weiße Mittelstreifen schimmerte, als wäre er frisch gestrichen worden. Es war noch immer ein Bilderbuchtag, doch dieses Bild wurde zerstört von einem Wagen, der von seiner Fahrerin auf der anderen Seite in den Graben gelenkt worden war. Die Frau mit den rötlichen Haaren war ausgestiegen. Vor Wut trommelte sie mit den Fäusten auf dem Dach des Polos herum.
»Spielen wir Kavalier?« fragte Harry.
»Haben wir die Zeit?«
»Einige Minuten schon.«
»Okay, dann verwandeln wir uns mal in die Ritter der Landstraße. Vielleicht können wir das Auto ja mit gemeinsamer Kraft aus dem Graben wuchten.«
»Jawohl, du Herkules.« Harry blinkte und fuhr rechts ran.
Die Frau hatte uns gesehen und sich ein paar Schritte von ihrem Wagen entfernt. Sie stand am Rand der Straße und blickte uns entgegen, als wir die Fahrbahn überquerten. Die Hände hatte sie in den Taschen ihres Mantels vergraben.
Harry Stahl war schneller bei ihr als ich. Ich hielt mich zurück, es reichte, wenn einer die Fragen stellte. So konnte ich mir die Frau ansehen, und das was ich da zu sehen bekam, das gefiel mir nicht besonders. Okay, die Frau war in den Graben gefahren, da hatte es schon einen Schock gegeben, aber dawar etwas in ihren Augen, was nur schwer zu erklären war. Vielleicht konnte ich es als Panik oder Angst ansehen, wie bei jemandem, der sich verfolgt fühlt.
Sie schaute auch immer wieder in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war, während sie sich mit Harry unterhielt. Ich konnte ihrem Gespräch folgen und hörte, wie Harry fragte: »Bleiben Sie dabei, daß Sie nicht wissen, wie sie in den Graben gerutscht sind?«
»Ich habe nicht aufgepaßt.« Sie strich durch ihre Haare, die feucht zusammenklebten. »Ich war wohl mit meinen Gedanken woanders, muß das Lenkrad verrissen haben. Jetzt stecke ich fest. Das ist vielleicht eine Scheiße.«
Ich ging um den Wagen herum, sah mir alles an und rutschte dabei in den Graben.
Ich trat wieder neben die beiden und lächelte. »Es sieht nicht so schlimm aus«, erklärte ich.
»Wie meinen Sie das?«
»Wenn Sie mit anfassen, könnten wir es schaffen, Frau…«
»Ich heiße Elke.«
»Okay, machen Sie mit?«
»Aber immer doch.« Sie schaute in Richtung Heroldsbach. »Ich will hier weg, einfach nur weg!« Plötzlich fing sie an zu zittern, ballte die Hände zu Fäusten und drehte sich von uns weg.
Elke war die erste, die am Heck des Polos stand und sich schon bückte.
Wir nahmen sie in die Mitte, bückten uns ebenfalls, umklammerten den unteren Rand, und warteten darauf, daß Harry Stahl das Kommando gab.
»Jetzt!« rief er.
Zwei Männer und eine Frau, die ebenfalls nicht gerade schwach war, schafften es, den leichten Wagen in die Höhe zu wuchten.
Harry lachte und rieb die Handflächen gegeneinander, die schmutzig geworden waren. Auch ich putzte meine Hände ab, die Frau atmete auf.
»Das war echt cool«, sagte sie.
»Gut, Sie können fahren.« Harry wollte ihr zuwinken und ihr noch sagen, daß sie besser aufpassen sollte, das war seinem Gesicht anzusehen, aber ich war schneller.
»Kann ich Sie einen Moment sprechen, Elke?«
Verblüfft schaute sie mich an. »Was wollen Sie? Mich noch sprechen? Warum?«
»Ich möchte Sie etwas fragen.«
»Bitte.« Sie lachte etwas nervös. »Einem Kavalier der Straße kann man keinen Wunsch abschlagen.« Die Betonung lag auf dem Wort keinem, das hatte ich schon gemerkt.
»Kann es sein, daß Sie Angst haben?« kam ich direkt auf den Punkt, was Elke überraschte, denn sie trat einen Schritt zurück.
»Angst?«
»Ja.«
»Warum sollte ich Angst haben?«
»Ich sehe es Ihnen an.«
»Verdammt, wer sind Sie? Der Mann mit den Röntgenaugen?«
»Nein, das nicht.«
»Sie sind kein Deutscher.«
»Ich komme aus London, aber Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet. Haben Sie Angst? Und sind Sie deshalb möglicherweise in den Graben gefahren?«
Die Forschheit aus den Augen der Frau war verschwunden.
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