091 - Die Braut des Hexenmeisters
sehen und begreifen kann. Denken Sie nur an Ihren Vater, Ihren Großvater und alle die anderen, die vor ihnen kamen. Sie starben jung und auf unerklärbare Weise. Denken Sie an Ihre merkwürdigen Unfälle.“
„Sie wissen das?“
„Und noch viel mehr.“
„Also gut“, er atmete schwer. „Gut, gut, gut. Schenken Sie mir reinen Wein ein. Ich werde ganz still zuhören.“
Mit trägen Schwingen strebte die riesige Fledermaus wieder nach Westen. Doch über dem Bois de Boulogne unterbrach sie plötzlich ihren Flug, als habe sie unter sich eine lohnende Beute zwischen den Bäumen entdeckt. Aber sie war nicht auf Beute aus. Ihre roten Augen wurden trübe. Sie hatte ein beunruhigendes Signal empfangen.
Die Fledermaus kreiste auf der Stelle, witterte, horchte. Das Signal kam von unten. Ihre Augen sprühten vor Zorn. Sie schoß in einer anderen Richtung davon, auf den Gare du Nord zu.
„Unglaublich“, Jean zündete sich mit zitternden Händen eine Zigarette an, „so unglaublich, daß ich mich an der Nase ziehen muß, um mich zu überzeugen, daß ich nicht träume.“
„Wenn Sie noch weiter glauben, zu träumen, werden Sie und Manon verloren sein.“
Er nickte nachdenklich und stieß den Rauch aus. „Und Sie wissen nicht, wie man ihm beikommen kann?“
„Ich weiß nicht, ob er ein Werwolf, ein Vampir oder ein Hexenmeister in seiner dämonischen Gestalt ist. Ich habe ihn nur als Mann erlebt.“
„Werwolf, Vampir oder Hexenmeister“, stöhnte Jean. „Unfaßbar.“
„Wie Sie ihm als Alain Monod beikommen können, weiß ich. Allerdings wird Ihnen das nicht viel helfen. Aber einen Aufschub können Sie damit erreichen – wenigstens eine Gnadenfrist für Manon.“
„Für Manon“, wiederholte er mechanisch, „wenigstens für Manon.“
Sie riß ein Blatt Papier aus seinem Notizblock und fing an zu zeichnen. „Das ist der Grundriß der Zitadelle. Da ist die Falltür zu dem geheimen Keller, hier, wo ich die Kreuze einzeichne.“
Er sah sie zweifelnd an. „Aber damit bringen Sie sich doch selbst ins Zuchthaus!“
Sie zuckte gleichgültig die Schultern. „Das macht mir nichts mehr aus. Für mich ist das Leben sowieso zur Hölle geworden.“
„Sie waren wohl mal in ihn verliebt?“ Er erschauerte. „Verliebt in einen Dämon.“
Sie nickte. „So etwas wird man nicht mehr los.“ Sie blickte ihn starr an. „Und kippen Sie morgen früh nicht gleich aus den Pantoffeln, wenn Sie einen Abschiedsbrief von Ihrer Manon bekommen. Sie ist nicht mehr sie selbst.“
„Ich habe es begriffen!“ sagte er gequält.
„Männer vergessen so rasch“, flüsterte sie. „Und wenn sie verzweifelt sind, denken sie nicht mehr an sich. Ich kann es Ihnen nicht oft genug einschärfen: Tragen Sie ein Pentagramm auf dem Körper! Dann kann er Ihnen wenigstens als Dämon nichts anhaben.“
„Ein Pentagramm – ja.“
Sie stand auf und zog ihren Mantel über. „Und vergessen Sie nicht die Waffen, die einem schwachen Menschen wie Ihnen gegen einen Dämon zur Verfügung stehen. Armselige Waffen, aber immerhin!“
Er legte den Kopf in die Hände. „Ich werde es nicht vergessen, Yvette. Nein, bestimmt nicht.“
Sie blickte ihn an, einen Funken Mitleid in den harten Augen. „Alles andere liegt bei Ihnen, Jean. Mehr kann ich nicht für Sie tun.“
Jean schwieg, und sie ging aus dem Zimmer, ohne sich zu verabschieden.
Inspektor Jolliet vom Morddezernat steckte sich gerade in seinem Dienstzimmer eine neue Pfeife an. Ein herrlicher Tag heute, dachte er. Am liebsten wäre er jetzt zum Angeln gefahren. Seine Frau war auf Urlaub, und die Polizeipräfektur hatte ein paar ruhige Wochen, weil die Ganoven jetzt auch Urlaub machten. Die Taschendiebe waren an der Riviera, die Autodiebe ebenfalls. Nur die Mörder…
„Monsieur Jolliet?“ Sein junger Assistent Philippe steckte seinen Rotschopf durch die Tür. „Da draußen ist so ein Spinner und will Sie sprechen.“
„Ein Spinner?“ meinte Jolliet bedächtig und zündete sich einen Fidibus an. „Der hat sich wohl im Gebäude geirrt. Sagen Sie ihm, das Hospital Beaujon sei für ihn zuständig.“
„Er läßt sich aber nicht abweisen. Er meint, es ginge um Leben und Tod.“
„Na, um was geht es denn sonst im Leben. Also gut, schicken Sie ihn herein.“
Inspektor Jolliet musterte mit halbgeschlossenen Augen den jungen Mann, der sich jetzt an Philippe vorbei in sein Büro drängte. Intellektueller Typ. Groß, schlank, dunkelblond. Offenbar vor kurzem
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