0910 - Der Totflüsterer
Tisch und gruben ihre Finger in die feste Masse, aus der ihnen zwei ängstliche Augen entgegenblickten. Schicht für Schicht legten sie das Gesicht einer Frau frei - der Frau, die sie auf dem Silvesterfoto gesehen hatten! Als auch ihr Mund von der Kokonschicht befreit war, sog sie die stinkende Luft so gierig ein, als wäre sie ein köstliches Elixier.
»Keine Angst!«, sagte Nicole. »Wir holen Sie da raus! Wie heißen Sie?«
Die Antwort war ein gekrächztes »Elisabeth«.
»Madame Pereire?«
Ein Nicken. »Das Klingeln… hab es gehört… gestrampelt.« Ihre Augen zuckten hektisch zwischen Zamorra und Nicole hin und her. Schließlich schielte sie zu der umgestürzten Stehlampe.
Zamorra begriff. »Sie haben uns gehört und zu strampeln begonnen!«
Sie nickte wieder.
»Dann haben Sie es geschafft, mit den Füßen die Lampe umzuwerfen, dass wir Sie hören.«
Aufgeregtes Nicken.
Der Professor lächelte, doch dann fiel ihm ein, dass Elisabeth Pereire das unter dem Seidentuch nicht sehen konnte. »Das haben Sie gut gemacht«, sagte er deshalb. »Was ist mit Ihrem Mann?«
In Elisabeths Augen flackerte Panik auf. »Nein… er…« Sie schluchzte und Tränen rannen über ihre Schläfen und den Kokon, den Zamorra und Nicole immer noch nach und nach abtrugen. »… soll weggehen… er… mir nichts tun! Böse!«
Nur mit Mühen gelang es Nicole, die Frau zu beruhigen.
Die Strapazen der letzten Stunden, Tage oder vielleicht sogar Wochen waren zu viel für sie. Ihre Worte ertranken in den Tränen und waren kaum noch zu verstehen. Ihre Stimme wurde leiser und leiser.
Nur einmal konnte Zamorra noch verstehen, was sie sagte, bevor sie die Augen schloss und von einer Ohnmacht wegdämmerte. Doch dieses eine Mal jagte ihm einen eisigen Schauer über den Rücken.
»Agamar!«
***
Die nächste Zeit war ausgefüllt von intensiver Arbeit. Zuerst alarmierten sie Pierre Robin, dann nahmen sie die restlichen Kokons ab. Die darin Gefangenen waren allesamt tot: mumifiziert und ausgetrocknet, als hätte ihnen jemand auch den letzten Tropfen Flüssigkeit ausgesaugt.
»Das ist keine Bruthöhle«, sagte Zamorra. »Das ist eine Speisekammer!«
Sie durchsuchten Zimmer für Zimmer, stießen dabei auch auf einen Raum, der ausschließlich mit Kunstgegenständen gefüllt war. Von Agamars Schwinge fanden sie jedoch keine Spur.
»Und jetzt?«, fragte Nicole.
Zamorra zuckte mit den Schultern. »Ich blicke kein bisschen durch! Lebt Agamar doch noch? Wo ist seine Schwinge? Woher kennt Madame Pereire seinen Namen? Was hat ihr Göttergatte damit zu tun? Ich bin völlig überfragt. Aber ich kenne jemanden, der uns vielleicht weiterhelfen kann.«
Bevor Nicole nachfragen konnte, wen er damit meinte, trafen der Kranken-, ein Leichenwagen und die Polizei ein. Chefinspektor Robin war noch nicht dabei.
»Er steckt im Stau!«, sagte ein Uniformierter.
Die Sanitäter brachten die immer noch bewusstlose Elisabeth Pereire in den Krankenwagen.
Der Professor kehrte noch einmal ins Wohnzimmer zurück.
»Wir verschwinden dann erst mal von hier«, sagte er zu dem Uniformierten. »Sollte etwas sein, weiß Pierre ja, wie er uns erreichen kann.«
Der Polizist ging zum Fenster und zog die Jalousien hoch. »Wollen Sie nicht noch warten, bis er kommt?«
Zamorra zeigte an sich herab. Sein weißer Anzug, seine Hände, selbst seine Haare waren von Schleim verkrustet. »Nein, lieber nicht. Die Dusche schreit so laut nach mir, dass ich sie bis hierher höre!«
Der Uniformierte grinste. »Das kann ich verstehen. Ich sag dem Chefinspektor Bescheid, dass Sie… Hey, was ist das?«
»Was denn?«
»Das hier!« Der Polizist bückte sich und hob etwas hoch, das im ersten Augenblick wie ein hauchdünner, auf dem Rücken offener Ganzkörperschutzanzug aussah. »Das lag hier vor der Heizung. Da ist noch ein ganzer Haufen davon!«
Zamorra schluckte. Das war kein Anzug! Das war…
Da sprach der Polizist aus, was Zamorra dachte. »Ist das Haut?« Er ließ seinen Fund los. »Das ist völlig unmöglich, aber wissen Sie, auf welchen Gedanken man da kommen könnte?«
Der Meister des Übersinnlichen nickte. »Auf den Gedanken, dass sich hier jemand gehäutet hat wie eine Schlange.«
***
Langsam ging ihm dieser Kerl im weißen Anzug auf die Nerven!
Ich habe dir gleich gesagt, dass er gefährlich ist!
Diesmal sah Agamar sich nicht nach dem Sprecher um, weil er wusste, dass er keinen finden würde. Seit er das Gebäude von Luynes Ball Bearing verlassen hatte, mischte sich
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