0911 - In der Knochengruft
lag das Ergebnis auf der Hand. Es waren einfach zu wenige. Hier hätten mehr Gebeine liegen müssen, um die Einbuchtungen auszufüllen.
Ich ging davon aus, daß dies auch der Fall gewesen war, aber die anderen Knochen hatten die Nischen verlassen und sich zu diesem geisterhaften Monster entwickelt.
Wie es möglich gewesen war, wußte ich nicht. Das Rätsel war nicht kleiner, sondern größer geworden. Eines aber stand fest: Das Knochengespenst war befreit worden. Ob es noch einmal zurückkehren würde, wußte ich nicht. Ich glaubte nicht so recht daran, es hatte diese Welt verlassen und sich eine andere gesucht.
Ich hatte hier nichts mehr verloren. Warum und von wem die Nischen gebaut worden waren, interessierte mich nicht mehr. Frank Madson war jetzt wichtiger.
Bevor ich ihn anhob, untersuchte ich ihn kurz im Schein der Leuchte. Ich hatte seine Taschenlampe gefunden und eingesteckt. Der Mann war nicht leicht. Ich geriet ins Schwitzen, als ich ihn auf meine Arme legte, und bewegte mich mit meiner Last schwankend und keuchend dem Ausgang zu.
Diesmal schob ich keine Zweige zur Seite, sondern wühlte mich einfach hindurch.
Nach der Dunkelheit blendete mich das Sonnenlicht. Ich zwinkerte, schaute nach vorn - und hätte Frank Madson fast fallengelassen.
Vor mir stand der Junge.
Nur war er nicht allein.
Neben ihm stand ein Fremder, der mich aus seinen düsteren Augen anstarrte…
***
Der Unheimliche hatte sein Reich der Finsternis wie ein Sturmwind verlassen und war in den Wald hineingejagt, als gäbe es dort keine Hindernisse. Er tauchte hinein in die Masse der Bäume, in das Gestrüpp, und er bewegte sich dabei wie ein Geist, denn kein Knochen scheuerte irgendwo gegen ein Hindernis.
Er war ein huschendes Etwas, das aber, je mehr Zeit verging, allmählich Gestalt annahm.
An einer dunklen Stelle, wo kein Menschenauge es beobachten konnte, drückte es sich zu Boden und zugleich in eine flache, tellerförmige Mulde hinein.
Genau an diesem Ort geschah etwas Faszinierendes. Der Geist drehte sich auf der Stelle wie ein Wirbelwind oder eine spiralförmige Windhose. In seiner durchscheinenden Gestalt zeichneten sich rote, huschende Flecken ab die zwar voneinander getrennt waren, aber durch die heftige Drehung ihre klaren Umrisse verloren und so aussahen, als wollten sie sich zu einem einzigen Fleck versammeln.
Über den Muldenboden tanzte ein roter Irrwisch, dessen Gestalt immer schärfere Konturen annahm.
Ein Geist mit dem Maul eines Ungeheuers, aber mit roten, bösartigen Knochen, stand da.
Sein Maul klappte auf und zu. Immer wieder.
Ein Zeichen dafür, daß er Hunger hatte.
Und Nahrung gab es genug!
Tiere - und Menschen!
***
Der Fremde hatte eine Hand auf die Schulter des Jungen gelegt, und Barney war nicht in der Lage, sich zu rühren. Er sah aus wie jemand, der seinen Willen verloren hatte, denn von der Hand des Fremden ging eine fast schon hypnotische Kraft aus. Obwohl ich den Körper des Vaters auf den Armen hielt, gab Barney keinen Kommentar ab. Er schaute einfach ins Leere, als wäre er nur noch eine Gestalt ohne Gehirn, das seine wichtigsten Funktionen verloren hatte.
Der Fremde bereitete mir Sorgen, und ich legte zunächst Frank Madson behutsam ins Gras, um mich, um uns, verteidigen zu können.
Als ich mich wieder aufgerichtet hatte, schaute ich mir die Person genauer an.
Sie war irgendwie alterslos, hätte fünfzig, aber auch siebzig Jahre alt sein können und erinnerte mich im Aussehen an eine Vogelscheuche. Der Mann trug einen langen, fleckigen Mantel, an dem nur mehr drei Knöpfe vorhanden waren. Auf dem dünnen Hals saß ein schmaler Kopf. Hakennase, dünne Lippen, eine hohe Stirn und düstere Augen bildeten das Gesicht. Er trug einen spitzen Hut auf dem Kopf, dessen Krempe vorn nach oben gebogen war, damit nichts seinen Blick störte.
»Wer sind Sie?« fragte ich.
Er lächelte. »Wer sind Sie? «
»Jemand, der einen Mann unbedingt in ärztliche Behandlung schaffen muß. Und mir gefällt es nicht, daß ich den Eindruck habe, als wollten Sie mich daran hindern.«
»So? Will ich das?«
»Es sieht so aus.«
»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Frank Madson wird nicht sterben, nicht er, Mr. Sinclair.«
»Sie kennen meinen Namen?«
»Barney sagte ihn mir.«
»Stimmt das, Barney?«
Nach dieser Frage löste der Fremde seine Hand von Barneys Schulter. Der Junge atmete tief durch, schüttelte den Kopf, sah mich, erkannte mich, wollte etwas sagen, als er seinen auf dem Boden
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