0911 - Nachtgestalten
sich stellte. Ohne Zamorras Einsatz wäre Robin beispielsweise jetzt nicht mit Diana zusammen, die in einer kleinen Wohnung am Stadtrand darauf wartete, dass ihr Chefinspektor endlich Feierabend machte. Diana, die der Professor einst von einem Geisterschiff befreit hatte. [2]
Dann woll'n wir mal , dachte Zamorra und streckte die Hände über der Leiche aus, an der er gerade stand. Ohne den toten Körper zu berühren, fuhr er ihn einmal vom Kopf bis zu den Füßen ab - mit geschlossenen Augen und offenem Geist. Offenen Sinnen.
»Wie hieß er hier noch gleich?«, fragte er leise. »El-Fetouh?«
»Korrekt«, kam Robins leise Antwort. »Mustafa el-Fetouh. Der zweite Nachtwächter.«
Zamorra konzentrierte sich auf den Zauber, den er wirken wollte, und blendete die ganze Welt aus. Nur noch der Moment zählte, nur noch das Schicksal, dessen unglückliches Ende auf dem Tisch unter ihm lag. Nach einigen Minuten gab er auf und wiederholte die Prozedur am nächsten Toten. Dann am dritten, am vierten. Immer ohne Ergebnis.
»Es…«, begann er frustriert. »Es tut mir leid, Pierre. In letzter Zeit ist… nun, es hat sich einiges verändert, und über so manche Auswirkung der jüngsten Ereignisse bin ich mir selbst noch nicht im Klaren. Fest steht allerdings, dass sie mein magisches Talent beeinträchtigen, leider zum Schlechteren.«
Zamorra griff in den Ausschnitt seines Hemdes und zog Merlins Stern hervor - das magische Amulett, das er stets um den Hals trug. »Nimm zum Beispiel das Amulett. Ich bin mir sicher - genau wie du -, dass diese Morde eine magische Komponente haben, vermutlich sogar eine schwarzmagische. Normalerweise hätten mein Bauchgefühl und auch Merlins Stern also eben anschlagen sollen. Doch nichts geschah.«
Robin nickte verständnisvoll. Schon auf der Hinfahrt vom Stadtpark aus hatte Zamorra ihm von den gefährlichen Aussetzern berichtet, die das Amulett in jüngster Zeit hatte. »Dann bleibt uns zunächst wohl nur eins, fürchte ich«, sagte der Chefinspektor.
Zamorra nickte. »Klassische Polizeiarbeit…«
***
Aus den Archiven der Hölle
Es ist der Herbst 2004 und Luc Curdin eine schwule Sau.
Findet zumindest Thierry Lecroix, und der muss es wissen, immerhin ist er der coolste Junge der ganzen Klasse. Jeder will mit Thierry befreundet sein, und für diejenigen, die wissen, was gut für sie ist, ist Thierrys Wort Gesetz. Antoine weiß es.
Deswegen nickt er auch geflissentlich, während Thierry den Vorwurf wiederholt. »Du bist eine schwule Sau, Curdin. Weißt du das? Ein dummes Stück Scheiße, weiter nichts.«
Antoine hat keine Ahnung, was eine schwule Sau sein soll, aber Sau klingt schon mal vielversprechend, und wenn Thierry das sagt, dann stimmt es. Die Welt kann einfach sein, wenn man sie nur lässt.
Er sieht nach vorne, wo Luc in einigen Metern Abstand zu ihnen seinen Heimweg antritt, das ungeliebte Zeugnis in den Händen. Antoine weiß, dass Lucs Noten nicht gerade zu Jubelstürmen einladen, und eigentlich würde er ihn auch bemitleiden, weil er Lucs Vater kennt und weiß, wie streng Monsieur Curdin werden kann. Aber das kann er, Antoine, sich jetzt in Thierrys Gegenwart nicht erlauben, ohne sich selbst zum Opfer von Spott und Ablehnung zu machen.
Luc scheint sich ohnehin nicht an den Beschimpfungen zu stören, sondern geht ungerührt weiter, als hätte er nichts gehört.
Thierry bückt sich, hebt einen Stein vom Bürgersteig und wirft ihn nach vorn. Wenige Zentimeter vor Lucs rechtem Fuß knallt er auf den Boden. »Ich rede mit dir, Spasti!«, ruft Thierry dabei und fährt sich mit der rechten Hand durch das schwarze Haar. »Hab gehört, die alte Madame Bouvier hat dir in Mathe eins reingewürgt. Ja, ja, die hat's drauf. Wen die einmal auf dem Kieker hat, der kommt auf keinen grünen Zweig mehr. An deiner Stelle würde ich die Schule wechseln, Curdin. Ernsthaft. Überleg mal, da gewinnen wir alle dran: Du kannst in einer komplett neuen Klasse und mit neuen Lehrern neu starten, und wir sind endlich deinen Gestank und deine jämmerliche Mamasöhnchen-Hackfresse los.«
Antoine sieht, dass Luc jetzt doch stehen geblieben ist, bisher hat er sich aber nicht zu Thierry und ihm umgedreht. »Das wäre quasi dein Geschenk an die Menschheit. Gut, nicht an die armen Flachpfeifen, in deren Klasse du dann kämst, aber ich garantiere dir, dass wir, die cmI(Cours moyen Ire année, entspricht der dritten Klasse im deutschen Schulsystem.) der Saint-Exupéry , dir auf ewig dankbar wären.«
Ich
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