0917 - Das Totenfest
Strahl die bedrückende Finsternis. Ich ließ ihn wandern und sah, daß er nicht nur das Ende der Höhle erfaßte, sondern auch ihren Bewohner.
Die Bestie hatte sich hingehockt. Im Schneidersitz saß sie auf dem Boden, nach wie vor eingewickelt in ihren Vorhang, und in dieser Haltung kam sie mir vor wie ein alter Medizinmann, der in seinem Pueblo sitzt und darauf wartet, daß jemand kommt, um ihn um Rat zu fragen.
Er mußte für einen Moment in das Licht schauen und traf auch keine Anstalten, den Kopf zur Seite zu drehen. Er nahm es hin. Seine Augen bewegten sich dabei nicht, und der helle Strahl zeichnete die Konturen seines Gesichts genau nach.
Ich sah es scharf wie ein Bild.
Arme, die unter dem hautartigen Umhang hervorkrochen. Hände, deren Krallenfinger sich suchend über den Boden bewegten, als wollten sie nach irgend etwas fassen.
Etwas klapperte. Dann wurde der Gegenstand in die Höhe gehoben und weggeschleudert. Für einen Moment unterbrach er den Lichtschein, so daß ich den blanken Knochen erkennen konnte, den die namenlose Bestie zur Seite geworfen hatte.
Mit einem ebenfalls klappernden Geräusch war er wieder auf den harten Boden gefallen, aus dem die Steine wie kleine, blanke Stolperstellen hervorschauten.
Der Knochen hatte mir den letzten Beweis gegeben. Vor mir saß tatsächlich ein Ghoul. Er mußte das Gebein abgenagt haben, und der Haß auf diese Kreaturen überschwemmte mich.
Ich zielte auf seinen Kopf.
Mein rechter Zeigefinger ›klebte‹ am Abzug. Noch schoß ich nicht, aber ich sah, wie sich das Gesicht dieser Gestalt bewegte und sich die lederartige Haut zusammenzog. Sie hatte noch mehr Falten bekommen, den Schädel legte er schief, der Mund war so weit aufgerissen, wie es nicht mehr ging, und eine schlimme Welle aus Leichengestank erreichte mich und raubte mir für einen Moment den Atem.
Ein Geräusch ließ mich zusammenzucken. Der Ghoul hatte es produziert. Da mischten sich Fauchen und Krächzen mit heftigem Schnauben und Schmatzen.
Er roch mich. Er wollte mich…
Aber ich würde ihm die Suppe versalzen. Geweihtes Silber ist eine starke Waffe, auch gegen Ghouls. Ich brauchte nur abzudrücken, und es hatte ihn gegeben.
Noch immer zögerte ich. Da war die innere Stimme, die mich davor warnte. Wenn ich ihn vernichtete, was auch durch mein Kreuz geschehen konnte, stand ich hier allein. Die Frau war verschwunden, ich würde den Rückweg nicht mehr finden und…
»Nicht schießen!«
Rhena hatte gesprochen.
Sie stand hinter mir.
Ich drehte mich um.
Bittend schaute sie mich an. »Wenn du schießt, ist alles umsonst, alles verloren…«
Da ließ ich die Waffe sinken.
***
Ich hörte, wie Rhena erleichtert aufatmete. Sie wischte sich mit einer Hand den Schweiß von der Stirn. Das Licht meiner Lampe hatte sie erfaßt. Noch immer trug sie dieses schlichte lange Hemd, ein einfaches Kleidungsstück, aber nichts darunter.
»Okay«, sagte ich, »schießen werde ich nicht. Aber eine Erklärung brauche ich schon.«
»Ja, die kann ich dir geben.«
»Hier?«
Sie warf einen Blick an mir vorbei und schüttelte den Kopf. »Nein, laß uns nach draußen gehen. Es wird noch etwas dauern, bis seine Zeit endlich beginnt.«
Ich fragte nicht nach, was sie damit gemeint hatte. Sie würde mir diese Erklärung später geben, und sie fügte auch kein Wort mehr hinzu, denn sie drehte sich um und schritt dem Ausgang der Höhle entgegen.
Ich blieb ihr auf den Fersen und stellte mich dicht neben sie. Beide konnten wir auf das Meer der Flammen sehen, das unter uns wie ein großer, sich leicht bewegender Teppich lag, ansonsten aber durch nichts gestört wurde.
»Du - kennst ihn gut, nicht wahr?« sprach ich Rhena an.
Sie nickte, doch sie gab mir eine völlig andere Antwort, die sich gar nicht auf meine Frage bezog.
Tonlos hauchte sie: »Es ist sein Fest, sein Totenfest…«
»Die Kerzen sind für ihn?«
»Ja.«
»Warum?«
»Sie sollen ihm die Kraft geben. Er ist alt geworden, sehr alt. Ein alter Ghoul ohne Nahrung. Er hat schon sehr lange darauf verzichten müssen. Es sind keine Menschen mehr in den Bunker gekommen, verstehst du?«
Ich ahnte die Wahrheit, aber ich wollte sie von Rhena wissen. »Soll das heißen, daß sich der Ghoul von denjenigen Menschen ernährt hat, die im Bunker damals Schutz gesucht haben?«
»So ist es. Sie ahnten nicht, daß dieser Bunker der Zugang zu seiner Welt war. Er hat sie sich in den Kriegswirren holen können. Es verließen stets weniger Menschen den Bunker als
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