0917 - Laertes' Grab
Gebäude, die links von Kylion lagen. Der Neslin wirbelte herum. Was er sah, entsetzte ihn… und zu gleichen Teilen war er von dem Anblick entzückt.
Das war sie wieder - die alte Gewalt. Und mit ihr kam der Rausch des Blutes, den Kylion bei dem Anblick, der sich ihm hier bot, nur mit Macht unterdrücken konnte.
Aus dem zweiten Stock des Gebäudes wurde ein Körper geschleudert, der in der Luft einen Schauer von Blut nach sich zog. Das blutige Bündel landete keine zehn Schritte von Kylion entfernt auf dem Boden. Sofort sah der Neslin, dass die Leiche nicht vollständig war. Der fehlende Teil folgte nur wenige Sekunden später nach. Es war der Kopf einer Neslin-Frau, die Kylion sehr gut kannte. Es war die Schwester Gewenas. Wer ihr Mörder war, konnte Kylion sich denken, denn sie hatte mit ihrem Mann gemeinsam in diesem Haus gewohnt.
Kylion wusste, dass er hätte entsetzt sein sollen, als er dieses Bild vor sich sah. Entsetzt und angeekelt, doch war das nicht genau seine Vergangenheit gewesen? Ihrer aller Vergangenheit? Vor 300 Jahren hatten sie ihr entfliehen wollen, weil sie mit angesehen hatten, wie die Macht, die über sie befehligte, ihr Versprecher gebrochen hatte.
Die Heimatwelt der Neslin war gnadenlos vernichtet worden.
Das war der Moment gewesen, in dem sich 15.000 von ihnen in einem verzweifelten Akt zusammengetan hatten. Damals verfügten sie noch über die Fähigkeit, durch das All zu reisen. Und sie benötigten dazu keine Raumschiffe, sondern alleine die Kraft, die ihrer Rasse innewohnte.
15.000 Wesen vereinigten sich zu einem - und ihre geballte Kraft hatte sie bis über die Grenzen der eigenen Galaxie getragen. Dorthin, wo die Macht niemals hinkommen würde. Zumindest waren sie davon überzeugt gewesen.
Eine bessere Zukunft - eine Hoffnung, die sich als irrig erwiesen hatte.
Kylion wurde sofort wieder aus seinen Gedanken gerissen, als ein weiterer Schrei durch die Siedlung fegte. Der Mörder hatte sein Haus verlassen und stand nun unweit von Kylion. Die Blicke der beiden Neslin trafen sich. Der Blick des Mörders sprach zu Kylion - was sollte ich denn tun? Ich konnte einfach nicht anders!
Und Kylion verstand. Er sah die sensenartige Klinge in den Händen des anderen, an der noch das Blut seiner Gefährtin klebte, und er verfluchte die Tatsache, dass er unbewaffnet war. Denn was nun kommen würde, das war ihm vollkommen klar. Sein Gegenüber rannte los, direkt auf Kylion zu. Dessen Blicke gingen hektisch nach links und rechts, doch er konnte nichts entdecken, das als Waffe getaugt hätte.
Nur noch wenige Schritte, dann war der andere bei ihm. Kylion schloss mit seinem Leben ab, und da war nicht viel Platz für Bedauern.
»Kylion - hier! Fang auf!« Er zuckte herum und sah Gewena, die wahrscheinlich von dem ersten Schrei aufgewacht war. Sie schleuderte etwas in seine Richtung, ganz so, wie sie es vor endlos vielen Jahren oft geprobt hatten. Es war sein Schwert, das nun - um die eigene Längsachse drehend - auf ihn zu flog. Geschickt machte Kylion einen halben Schritt zur Seite und griff zu. Exakt am Griff fing er die Waffe auf. Sie hatten diese Aktion einstudiert, um dem anderen im Notfall helfen zu können. Nun konnten sie diese Übung anwenden.
Kylion sah aus den Augenwinkeln heraus, wie der Angreifer sein Schwert hob, um Kylion damit den Kopf vom Rumpf zu trennen. Dann trafen die zwei Neslin aufeinander, und der Wirbel ihrer Klingen war mit dem bloßen Auge kaum wahrzunehmen.
Es war schnell vorüber, denn Kylion war mit dem Schwert schon immer nahezu unbesiegbar gewesen. Eine winzige Drehung - ein Moment der Unaufmerksamkeit beim anderen - dann setzte Kylion den Hieb an. Er ging von oben nach unten und teilte seinen Gegner vom Scheitel bis zum Brustbein in zwei Hälften.
Kylion hörte einen weiteren Schrei, doch er brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, dass es seine Stimme war, die nach weiterem Blut jammerte. Der Rausch - 300 Jahre unterdrückt - war schlagartig wieder da. Nur mit großer Mühe brachte Kylion sich wieder unter Kontrolle. Entsetzt erkannte er, dass dieser Kampf Dutzende Neslin auf die Straße gebracht hatte. Er ahnte, was nun folgen würde. Sie würden einander mit ihren Aggressionen füttern, bis das Blutbad nicht mehr zu vermeiden war.
Kylion fasste Gewenas Oberarm. »Komm, wir müssen weg von hier. Ich will meine eigenen Brüder und Schwestern nicht abschlachten müssen.« Er wunderte sich selbst, woher er den Willen noch nahm, aber ein Rest davon steckte noch
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