092 - Der Herr des Schreckens
die Strafe für dein Widerstreben’. Die Stimme fragte noch, ob ich nun nach Tibet kommen wolle. Sie klang süß und verlockend.“
„Was hast du geantwortet, Vater?“ fragte Nicole atemlos.
„Ich habe abgelehnt. Ich paktiere nicht mit den Mördern meiner Frau.“
Nicole sah Robert an und schüttelte unmerklich den Kopf. Professor Dulac war im Augenblick ein dahindämmernder, gebrochener Mann. Nicole wollte ihn nicht auch noch mit ihrem makabren Traum belasten.
„Ruh dich nur aus und gewinne ein wenig Abstand von den Ereignissen“, sagte die schwarzhaarige Nicole und drückte dem Professor einen Kuß auf die Stirn. „Und mach dir keine Sorgen, Papa.“
Dulac nickte schwach.
„Sei äußerst vorsichtig, Nicole“, sagte er. „Wenn auch dir noch etwas zustieße, das könnte ich nicht ertragen. Man hat dich doch nicht etwa bedroht?“
„Nein“, antwortete Nicole nach einem kurzen Augenblick des Zögerns. „Leb wohl, Papa. Ich besuche dich morgen wieder.“
Robert und Nicole verließen das Krankenzimmer.
„In seiner jetzigen Verfassung kann Vater keine weiteren Aufregungen ertragen“, sagte Nicole in dem nüchternen, nach vielerlei Arzneimitteln riechenden Gang des Krankenhauses zu Robert. „Er ist uns keine Hilfe. Wir müssen uns an Kommissar d’Estienne wenden.“
Robert Arvois fuhr die Nationalstraße entlang, überquerte die Seine und steuerte den Wagen geschickt die verkehrsreiche Hauptstraße am linken Seineufer hoch. Bald gelangte er auf die Seineinsel, wo sich die Polizeipräfektur befindet.
Kommissar d’Estienne erwartete die beiden jungen Leute in seinem geräumigen, nüchtern und sachlich eingerichteten Büro. Er war sehr ernst, als Nicole ihm ihren Traum erzählte.
„Das ist eine schlimme Sache“, sagte der Kommissar. „Natürlich kann alles ein Traum sein. Es wäre nicht verwunderlich, wenn Sie nach den Ereignissen der letzten beiden Tage Alpträume hätten, Mademoiselle. Andererseits aber, hm, hm! Ich jedenfalls werde diesen bedrohlichen Traum nicht auf die leichte Schulter nehmen. Sie erhalten ab sofort einen weiteren Polizisten zu Ihrem persönlichen Schutz zugeteilt, Mademoiselle Dulac. Haben Sie übrigens jenen kräftigen Pfleger im weißen Kittel gesehen, der auf der Bank im Flur saß und offensichtlich auf jemanden wartete?“
„Ja, allerdings.“
„Das war ein verkleideter Kriminalbeamter. Sie sehen, ich tue alles, um jeder möglichen Bedrohung vorzubeugen. Leider ist die Fahndung nach den beiden Tibetanern, nach Taschmosch und diesem Wesen, das angeblich kein Blut in den Adern hat und kein Mensch ist, erfolglos geblieben.“
Robert Arvois teilte dem Kommissar seinen Entschluß mit, sich für die nächste Zeit in der Wohnung der Dulacs einzuquartieren. Der Kommissar nickte zustimmend.
„Das halte ich für eine gute Idee. Wir haben es mit unheimlichen Gegnern zu tun, und wir wissen nicht, wie und wo sie das nächste Mal zuschlagen werden.“
Robert und Nicole verließen den Kommissar. In der Rue de la Durance angekommen, machte Nicole sich daran, einige Formalitäten wegen des Todes und der Beisetzung ihrer Mutter zu erledigen. Der Tod eines Menschen bringt als Begleiterscheinung einigen Papierkrieg mit sich.
Nach Einbruch der Dunkelheit machten die beiden jungen Leute einen Spaziergang um den Häuserblock. Zwei Polizisten in Zivil folgten ihnen in einigem Abstand, aber nichts geschah. In einem Bistro tranken Robert und Nicole einen Aperitif. Dann kehrten sie in die Wohnung der Dulacs zurück.
Gegen 22.30 Uhr ging Nicole zu Bett. Robert unterhielt sich noch eine Weile mit den beiden Polizisten in der Wohnung. Ein dritter Polizist patrouillierte auf der Straße. Es gab sogar ein tragbares Funkgerät, ein Walkie-Talkie, durch das die Polizisten Verbindung mit Funkstreifen und der Kriminalpolizei aufnehmen konnten, falls sie Hilfe oder Verstärkung brauchten.
Robert legte sich um 23.00 Uhr zur Ruhe nieder. Er benutzte die Couch im Arbeitszimmer des Professors. Für Roberts 1.85 Meter war sie zwar etwas knapp, aber zur Not würde es gehen.
Als Robert schon im Halbschlaf lag, hörte er ein Scharren und Schaben am Fenster. Er erhob sich verschlafen, tappte durch das dunkle Zimmer und stieß sich das Schienbein am Schreibtisch des Professors.
Er fluchte, zog den Rollladen hoch und schaute hinaus. Robert Arvois erschrak. Vor dem Fenster schwebte etwas Dunkles, zwei große, rotglühende Augen fixierten den jungen Mann. Robert Arvois wollte schreien, sich umdrehen und
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