092 - Der Herr des Schreckens
weglaufen.
Aber er konnte es nicht. Etwas Eisiges ging von den rotglühenden Augen aus, kroch durch Roberts Glieder und lähmte ihn. Unfähig, sich von der Stelle zu rühren, stand er wie eine Salzsäule.
Er konnte keinen Laut von sich geben und nicht einmal mit den Wimpern zucken. Er konnte nur das unheimliche Ding draußen vor dem Fenster anstarren.
Nicole lag in unruhigem Schlummer. Sie wälzte sich von einer Seite auf die andere. Plötzlich hörte sie durch die Betäubung des Schlafs eine süße, lockende Stimme.
„Nicole! Komm, Nicole, zum Fenster. Sieh mich an, sieh mir in die Augen.“
Nicole erhob sich wie eine Schlafwandlerin. Sie trug nur eine Pyjamahose. Nicole ging langsam zum Fenster, die Arme vorgestreckt. Sie zog die Vorhänge auseinander und den Rollladen hoch.
Noch waren ihre Augen geschlossen.
„Nicole“, lockte und schmeichelte die Stimme wieder. „Öffne die Augen, sieh mich an.“
Der Schein der Straßenbeleuchtung und das bläuliche Licht einer Neonreklame gegenüber fielen auf die nackten Brüste des Mädchens. Nicole schlug wie unter einem Zwang die Augen auf.
Sie erschrak. Sie sah in zwei große, rotglühende Augen, die sie zu durchbohren schienen. Nicole konnte sich nicht rühren und keinen Laut von sich geben. Gebannt und hypnotisiert stand sie da.
„Zieh dich an“, forderte die Stimme, immer noch sanft, aber bestimmt. „Verlaß das Haus und komm, ich warte auf dich.“
„Wer … wer bist du?“ hauchte Nicole, ohne die Lippen zu bewegen und kaum verständlich.
Die unheimliche Erscheinung mit den rotglühenden Augen hatte die Worte trotzdem vernommen. Nicole hörte ein hohes, schrilles, dämonisches Kichern.
„Ich bin Taschmoschs Geist“, flüsterte sie. „Und ein Bote des mächtigen Chandar-Chan, des Herrn des Schreckens. Er wartet im verfluchten Kloster in Tibet auf dich.“
Nicole erschauerte bis ins Innerste, aber sie konnte sich nicht aus dem Bann lösen, der sie umfing. Sie zog sich in dem Lichtschein an, der durchs Fenster hereinfiel und das Zimmer spärlich erhellte.
Das Mädchen verließ den Raum. Sie hörte keinen Laut in der Wohnung. Nicole öffnete von innen die Haustür und trat auf die Straße. In der Nähe des Hauseingangs sah sie den Polizisten, der draußen Patrouille zu gehen hatte. Er stand reglos da wie ein Denkmal.
Als Nicole an ihm vorüberging, wandte er nicht einmal den Kopf. Genau wie seine beiden Kollegen und auch Robert Arvois befand er sich in einem hypnotischen Bann. Er war aktionsunfähig und konnte nicht verhindern, daß Nicole davonging.
In einem dunklen Hauseingang sah Nicole einen schwarzen Schatten und zwei große rotglühende Augen. Obwohl alles in ihr sich dagegen sträubte, trat sie näher.
„Komm mit mir“, sagte eine leise Stimme, „ich werde dich führen.“
Der Schatten erhob sich in die Luft. Wie eine schwarze, formlose Wolke schwebte er über Nicole, und die roten Augen funkelten. Nicole ging die Rue de la Durance entlang bis zur nächsten Straße. Der formlose Schatten schwebte über einer Plakatwand, die vor einem unbebauten Grundstück stand.
Nicole schlüpfte hinter die Plakatwand. Zwei Männer standen dort im Schatten und erwarteten sie. Der eine war der zierliche, bleiche, spöttische Lönchen, der andere Taschmosch. Der Tibetaner stand bewegungslos mit hängenden Armen und halboffenem Mund da. Seine Augen waren verdreht, daß man das Weiße sehen konnte.
Der formlose schwarze Schatten senkte sich auf Taschmosch herab. Es war, als verschmelze er mit ihm. Die rotglühenden Augen schrumpften zusammen und wurden zu kleinen, leuchtenden Punkten in der Größe von Glühwürmchen.
Die leuchtenden Punkte schwebten auf Taschmoschs Augen zu und brannten sich hinein. Taschmosch bewegte sich, er schüttelte den Kopf und öffnete die Augen.
Er sah Nicole an und verneigte sich spöttisch vor dem Mädchen.
In gutem Französisch sagte er: „Sie sind in unserer Gewalt, Mademoiselle. Nachdem der Herr des Schreckens Sie als Trumpfkarte in der Hand hat, wird Ihr Vater nachgeben müssen.“
Erst in den frühen Morgenstunden, als die Millionenstadt Paris noch in tiefem Schlummer lag, konnte sich Robert Arvois wieder bewegen. Der Bann fiel von ihm ab.
Stöhnend massierte er seine völlig steifen Beine. Er eilte zu Nicoles Zimmer, es war leer. Die beiden in der Wohnung postierten Polizisten kamen hinzu.
„Die Mademoiselle ist verschwunden“, sagte der eine. „Ich hörte ein Geräusch am Fenster, und
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