092 - Piraten im Nordmeer
zurück.
»Halte die Bestie im Zaum!«, fauchte einer der Burschen.
»Wenn sie uns angreift…«
Rulfan stieß einen schrillen Pfiff aus, der sich wie ein Messer in sein Hirn bohrte. »Gib Ruhe, Wulf!«, befahl er, und der Lupa gehorchte augenblicklich, legte sich nieder und beobachtete das Geschehen nur noch aus seinen eisblauen Wolfslichtern.
McKenzie half Rulfan auf die Beine. Blitze durchzuckten das Hirn des Albinos, als er sich aufrichtete. Aber er gab sich keine Blöße. »Was ist passiert, während ich… ?«
Dave McKenzie holte mit großer Geste aus, die den Stutzer und die Rothaarige einschloss. Und seine Ausdrucksweise ließ vermuten, dass er einen der klassischen Piratenfilme interpretierte, von denen auch Rulfan in seiner Jugend manche gesehen hatte – im Vorführraum der Londoner Community.
»Das hier ist der edle Kapitän Orland, der Anführer der Flybusta, und dies sein Erster Offizier, die ebenso schöne wie mutige Laryssa«, stellte er die beiden vor und erntete prompt wohlwollende Mienen. »Laryssa hat mich… hm, im Kampf besiegt«, druckste er herum, »und mir angeboten, dass ich ihr… äh, Bursche werde. Ich habe ihr und Kapitän Orland berichtet, dass wir beide aus fernen Landen kommen und nur zufällig auf diesem Schiff sind, und so ließ er Gnade walten.«
Rulfan sah den Kameraden mit einem Blick zwischen Fassungslosigkeit und Aufbegehren an, doch bevor er die ganze bisher geleistete Diplomatie McKenzies zunichte machen konnte, sagte der mit Nachdruck: »Dass wir noch leben, ist allein dem Kapitän zu verdanken! Er hat sogar Wulf geschont, obwohl der ihm den Stiefel zerfetzt hat.«
Rulfan würgte die unschöne Erwiderung auf Daves Dankesrede herunter. Es schien momentan tatsächlich angebracht, sich in sein Schicksal zu fügen und auf bessere Zeiten zu warten. Auch wenn es ihm gehörig gegen seine Ehre ging.
»Nicht nur den Stiefel!«, begehrte Orland auf. »Dein Koyter hat mir die Haut verletzt. Ruft den Mediker herbei!«
Koyter! Auch diese Pille schluckte Rulfan.
Als Orland sich auf eine Kiste niederließ und den Stiefel abstreifte, konnte man sehen, dass er nicht übertrieben hatte: Blut lief in einer breiten Bahn die Wade herab. Seltsamerweise schien die Verletzung aber nicht der Grund für seinen fahrigen, nervösen Zustand zu sein.
Ein glatzköpfiges Männchen mit einem Ziegenbart und einer Ledertasche seilte sich vom Katamaran ab, lief zu ihm hin und begann die Wunde zu behandeln.
McKenzie nutzte die Gelegenheit, um Rulfan eilig und leise über den Ernst der Lage zu informieren.
»Ich sehe nur eine Chance, das hier lebend zu überstehen!«, raunte er dem Albino zu. »Wir müssen uns fügen. Mitmachen. Spiel ihnen den wilden Gesellen vor!«
»Wenn du glaubst…«, wollte Rulfan ebenso leise aufbegehren, doch Kapitän Orland, dem der Mediker das Bein bandagierte, unterbrach ihre Unterhaltung.
»Meine Gnade, Rotauge, ist nur von kurzer Dauer, wenn mir deine Nase nicht passt. Was kannst du uns also bieten für dein Leben?«
Rulfan ballte die Hände zu Fäusten. Nicht nur, dass ihre Reise nach Britana auf so unerfreuliche Weise unterbrochen worden war – nun musste er sich auch noch selbst verleugnen, um vor diesen Mistkerlen und Mördern gut dazustehen. McKenzie hatte es eindeutig besser getroffen: Er hatte sich von der Rothaarigen besiegen lassen – was ihm gewiss nicht schwer gefallen war – und war von ihr rekrutiert worden. Ob der Astrophysiker nun dazu verdammt war, bis zum Lebensende Stiefel zu putzen oder die Matratze seiner Herrin anzuwärmen, interessierte Rulfan im Augenblick wenig. Er suchte nach Worten, seine »Bewerbung« als Pirat akzeptabel vorzutragen.
»Man nennt mich Rulfan, nicht Rotauge!«, begann er und legte Stolz und Würde in seine Stimme. »Und ich habe mehr Kämpfe bestritten als die meisten von euch!«
Der Kapitän erhob sich, und Rulfan befürchtete schon, mit dem Widerwort zu viel riskiert zu haben. Doch dann verzog Orland schmerzhaft das Gesicht, als sein verletztes Bein auf die Planken traf, und Rulfan fuhr rasch fort: »Wenn ihr mich also am Leben lasst, kann ich noch nützlich für euch sein.«
Aus dem Inneren des Dampfers tauchten nun immer mehr Piraten auf, die Kisten, Kästen, Säcke und Beutel schleppten.
Unter ihnen befand sich auch ein fuchsgesichtiger Bursche, der besser gekleidet war als die restlichen Piraten. Er näherte sich dem Kapitän und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Dann widmete der Kapitän seine Aufmerksamkeit
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