092 - Piraten im Nordmeer
kannst.«
»So?« Laryssa machte große Augen.
»Würde es dich reizen«, fuhr Orland fort, »Ingmors Posten zu übernehmen und auf die Sturmbraut zu kommen? Oder bist du einem anderen Herrn verpflichtet?«
»Nej«, sagte Laryssa. Gleichzeitig rasten viele Gedanken durch ihren Kopf: Der Mann gefiel ihr. Er hatte gepflegte Umgangsformen, sah gut aus, kleidete sich geschmackvoll und befleißigte sich einer Sprache, die sonst nur in den höfischen Kreisen der Inseln üblich war.
Das böse Wort hatte sie ihm längst verziehen, und wenn er der Mann von Welt war, den sie in ihm sah, bedauerte er vermutlich von Herzen, dass es ihm überhaupt entglitten war.
Vielleicht, dachte sie, sollte ich mein Vorhaben für eine Weile aufschieben und ausprobieren, ob ich mit diesem Mann zurecht komme…
»Ich bin frei wie der Wind«, hörte sie sich sagen, »und nur mir selbst verpflichtet. Wenn ich auf der Sturmbraut mein Auskommen habe und du mir garantierst, dass mich Grimür nicht noch einmal belästigt, bin ich dabei.«
»Wohlan denn.« Kapitän Orland hielt ihr die rechte Hand hin, damit sie einschlug. »Ich schätze, dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Mein Name ist Ragnar. Und wie heißt du?«
Ragnar? Laryssas Unterkiefer klappte herunter, doch sie fing sich schnell. »Laryssa.« Es kann nicht sein, dachte sie. Viele Männer heißen Ragnar, besonders auf den Inseln.
Doch sie konnte nicht verhindern, dass das Bild aus ihren Träumen auf die einstürmte. Es zeigte ihren Vater, an den Hauptmast gefesselt. Vor ihm ein Fähnrich in zerfetzten und blutigen Beinkleidern, den gebräunten Oberkörper entblößt, in der rechten Hand eine schartige Klinge, die sich in den Hals ihres Vaters bohrte.
Ragnar? Ragnar Orland? Laryssa war wie betäubt. Sie schob den Gedanken weit von sich. Es war unmöglich, dass dieser gut aussehende, kultivierte Mann die Meuterei gegen ihren Vater angeführt und ihn umgebracht hatte.
Doch sein Alter kam in etwa hin. Es wäre auch eine Erklärung dafür, warum er ihr so bekannt vorgekommen war.
»Lass uns an Bord gehen, Laryssa«, sagte Kapitän Orland und ging ihr durch den Korridor voran. »Um Ingmors Leichnam soll die Wirtin sich kümmern.«
Wenn du es warst, dachte Laryssa, als ihre Beine ihm wie mechanisch folgten, kümmere ich mich bald um den deinen…
***
Laryssa verbrachte die Nacht in der winzigen Kajüte, die einem Bootsmann dienstgradmäßig zustand. Dass sie Dinge enthielt, die Ingmor gehört hatten, störte sie nicht. Auch das leise Klatschen der Wellen, die in der Nacht gegen die Schiffswand schlugen, und das Knarren der Takelage setzten ihr nicht übermäßig zu.
Dass sie trotzdem die ganze Nacht über kaum ein Auge zubekam, hatte mit der Person Ragnar Orlands zu tun. Von quälenden Gedanken heimgesucht, wälzte sie sich stundenlang ruhelos auf der Koje hin und her.
Vernunft und Erfahrung sagten ihr, dass auch in der Brust von Menschen mit angenehmem Äußeren finstere Dämonen wüten konnten. Doch ihr Bauch behauptete das Gegenteil: Orland machte auf sie ganz den Eindruck eines sympathischen Zeitgenossen. Konnte er wirklich die Schandtat begangen haben, die sie damals mit eigenen Augen gesehen hatte? Sie musste sich irren!
Als der Morgen graute, ging es an Deck lebhafter zu. Heisere Stimmen riefen Befehle, bestiefelte Füße trabten über Planken.
Die Sturmbraut legte ab. Gleich darauf begann der wuchtige Leib des Katamaran unter Laryssa verhalten zu wanken.
Nachdem sie sich an einer mit Wasser gefüllten Schüssel gewaschen und ihre Mähne gekämmt hatte, kleidete sie sich an und suchte einen Weg an Deck. Doch leider war sie spät in der Nacht an Bord gekommen und hatte sich den Weg nicht gemerkt.
Daher war es mehr dem Zufall zu verdanken, dass sie auf der Suche nach einem Aufgang in die Messe kam, in der ein hasenzahniger Koch Tische mit einem Lappen abwienerte. Der Smoytje, ein einfältig aussehender junger Kerl mit fliehendem Kinn hatte schon gehört, dass sich ein neuer Bootsmann auf der Sturmbraut befand. Er servierte ihr das Frühstück – gebratene Vogeleier mit Speck und Kafi.
Während Laryssa aß, beobachtete sie den in der Kombüse gleich nebenan arbeitenden Burschen, der Pfannen schwenkend das Mittagessen vorbereitete. Da sie so viel wie möglich über den Kapitän und die Besatzung in Erfahrung bringen wollte, schenkte sie ihm in fünf Minuten mehr Aufmerksamkeit, als er wohl in seinem ganzen bisherigen Leben von einer Frau erhalten hatte. Als
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