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0920 - Welt der Stille

0920 - Welt der Stille

Titel: 0920 - Welt der Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Borner
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einem weißen und eng anliegenden, gestärkten Hemd hatte er eine karierte Stoffweste an, die so edel aussah, dass sie jeden Schneider, den Josephine kannte, wohl Wochen der Arbeit gekostet hätte.
    Der Mann hatte die Rechte erhoben. In seiner Hand hielt er die Quelle des Geruchs, den die junge Frau ausgemacht hatte: eine brennende Pechfackel. »Raaah«, machte der Fremde und wedelte dem Ungetüm mit der feurigen Leuchte vor dem Gesicht herum. »Wie gefällt dir das, du Ausgeburt einer nebligen Hölle?«
    So bizarr der Anblick auch war, er hatte sichtlich Auswirkungen auf den Slissak. Als hätte der fremde Herausforderer irgendein animalisches Ehrgefühl in ihm erweckt, widmete sich der Fischmann nun ganz dem Neuankömmling und wich hin und her, um an der brennenden Fackel vorbei zu ihm vorzudringen. Doch der Mensch wirkte bestens vorbereitet. Er ließ das Wesen nie aus den Augen, schien ihm immer einen Schritt voraus zu sein. Wenn der Slissak von rechts angreifen wollte, hielt ihm der Fremde die Fackel dort entgegen. Sprang er nach links und setzte erneut an, warf der Mann das brennende und mit Pech überzogene Holzstück von der rechten in seine linke Hand, geschickt wie ein Jongleur. Was das Monstrum auch versuchte, es kam an der Schnelligkeit und Gerissenheit des Mannes nicht vorbei.
    Und der Fremde setzte vor. Zentimeter für Zentimeter näherte er sich dem Ungeheuer, drängte es immer weiter zurück und dem Kamin entgegen. »Wie groß bist du jetzt, du Abscheulichkeit, he? Wie groß bist du noch, wenn du mit Leuten in deiner eigenen Preisklasse spielst?«
    Josephine sah dem Schauspiel staunend zu, doch ihr Verstand weigerte sich, die Bilder als Realität zu akzeptieren, die ihm die Augen lieferten. Erst recht, als der Fischmann… plötzlich verschwand! Der Fremde hatte ihn beinahe in die Enge getrieben, ihm jeglichen Fluchtweg genommen, da hisste der Slissak einmal mehr angriffslustig auf, und war binnen eines Sekundenbruchteils wie vom Erdboden verschluckt.
    »Na, endlich«, sagte der grau melierte Mann mit einem Seufzer der Erschöpfung, und wischte sich eine kurze Haarsträhne aus der Stirn und zurück auf den glänzenden Kopf. »Ich hatte schon gedacht, der verschwindet nie.« Dann wandte er sich zur Seite und blickte die Winzertochter an, die sich zitternd hinter einem großen und mit braunem Leder überzogenen Ohrensessel verbarg und vorsichtig über dessen Lehne blickte. Er nickte aufmunternd. »Sie können jetzt rauskommen, Miss. Es ist vorbei.«
    Irgendein Teil ihres Geistes sagte ihr, dass der Fremde auf ihrer Seite war. Dass sie keine Angst mehr zu haben brauchte. Dass sie einen Menschen gefunden hatte - und war das nicht das Ziel gewesen?
    Irgendeinem Teil ihres Geistes fiel nun auch der seltsam gedehnte Akzent des Fremden auf. Er klang, als sei das Deutsche nicht seine Muttersprache.
    Ihr Verstand signalisierte Entwarnung. Doch ihr Körper war noch zu geschockt und angespannt, um anders als mit Instinkt zu reagieren. Und ihr Instinkt hieß ihr, zu rennen, so lange und so weit sie es noch konnte! Mit einem lauten, verzweifelten Aufschrei sprang Josephine Becker auf, eilte aus der Tür der Bibliothek und den Flur hinab.
    »Oh, kommen Sie schon«, rief ihr der Fremde hinterher. »Was soll das denn jetzt, eh? Über das Stadium sind wir doch längst hinaus, aren't we ?«
    Josi ignorierte ihn, wie sie in diesen von Panik gesteuerten Augenblicken ihre gesamte Umgebung ignorierte. Alles, was sie noch ausmachte, war der Fluchtreflex. Er trieb sie unermüdlich an und ließ sie eine Sicherheit suchen, die es in dieser Umgebung vielleicht gar nicht gab.
    Da - eine Tür. Verzweifelt rüttelte die junge Frau am Knauf, zerrte hin und her, doch sie blieb verschlossen. Egal, weiter.
    Weiter, weiter, weiter! Die nächste Tür war ebenfalls zu, und Josephine hörte, dass ihr der Fremde nun in den Flur gefolgt war. »Lassen Sie das doch«, sagte er genervt. »Was wollen Sie denn im Badezimm…«
    Dann verstummte er. Als er sah, welche Tür Josephine als Nächstes avisierte.
    »Nein!«, rief er entsetzt. »Tun Sie das nicht, hören Sie! Nicht aufmachen.«
    Josephine lächelte. Drehte an dem Knauf. Und trat über die Schwelle.
    Der Raum, der dahinter lag, hatte keinen Boden. Sondern einen dunklen, endlos scheinenden Schacht. Josephine schrie auf, ruderte mit den Armen - und fiel doch unaufhaltsam ins Nichts.
    ***
    Weich.
    Wenn das Gehirn wieder auf Touren kommt, geschieht dies schubweise, und die kleinsten Eindrücke

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