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0920 - Welt der Stille

0920 - Welt der Stille

Titel: 0920 - Welt der Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Borner
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Charmeur, der vor wenig Halt machte, um die Milch zu bekommen, ohne dafür extra die Kuh zu kaufen. Und doch hatte er etwas an sich, dass ihn damit durchkommen ließ. Einen gewissen jungenhaften Schalk, wie ein Blitzen hinter seinen Augen, der seiner Statur und seinem wahrhaftigen Alter Hohn sprach.
    Ein Geräusch erklang, fern und fremdartig, und riss die junge Frau aus ihren Gedanken. Es war ein sonores Heulen und ließ sie an den Klagelaut eines Riesen denken. Josephine zögerte, kurzzeitig irritiert, und das Seil spannte sich.
    »Keine Sorge«, drang plötzlich Beaumonts Stimme zu ihr durch, »der ist weit weg. Keine Gefahr.«
    »Hören Sie so etwas hier öfters?«, fragte sie leise und bediente sich erstmals der Anrede, die auch er verwendete. Langsam setzte sie sich wieder in Bewegung.
    »Kommt vor«, flüsterte er zurück, und es klang, als lächle er dabei. »Ich nenne das immer Urzeitgeräusche, wissen Sie? So ungefähr könnten die Dinosaurier geklungen haben, von denen Sir Richard (Sir Richard Owen, britischer Paläontologe, erfand den Begriff ›Dinosaurier‹.) in seinen Abhandlungen schreibt. Titanen einer fremden Welt.«
    Josephine verstand kaum etwas von dem, was er da sagte, war aber froh, seine Stimme zu hören. Immerhin etwas Vertrautes in diesem unsäglichen Nichts. Nach einigen weiteren Minuten, die sie schweigend zurücklegten, erreichten sie ein Haus. Groß und dunkel erschien es ihr zwischen den Schwaden; erst als sie näher kam erkannte sie, dass es sich um einen steinernen Palast handelte. Staunend folgte sie ihrem Begleiter hinein. Geoffrey schien sich bestens auszukennen und führte sie in einen weiten und ausladenden Flur, von dem rechts und links mehrere kunstvoll beschlagene Türen abgingen.
    »Wo… wo sind wir?«
    »Im Heim eines römischen Kaisers«, antwortete er. »Terticus I., wenn ich mich nicht irre. Sie haben vielleicht von ihm gehört. Nein? Macht nichts, ich auch nicht.« Er zuckte amüsiert mit den Achseln. »Aaaber… ich habe von ihm gelesen - und zwar hier!«
    Mit diesen Worten bog er in einen offen stehenden Raum ab und deutete triumphierend auf eine Wand. Als Josephine neben ihn trat, erkannte sie, was er meinte: Dort befand sich eine Zeichnung, schwarze Kohle auf steinerner Fläche, und sie zeigte ein Wesen, das sie nur zu gut kannte. Selbst die glühenden Augen hatte der Künstler, vermutlich besagter Terticus, sehr gut getroffen.
    »Sein Name ist Dandrono«, erklärte Geoff. »So steht es zumindest in diesen lateinischen Sätzen dort neben dem Bild. Er ist gewissermaßen der Verwalter dieser Sphäre.« Plötzlich drehte er den Kopf. Tiefblaue Augen blickten Josephine direkt ins Gesicht. »Ich war nicht ganz ehrlich zu Ihnen, Miss. Auch ich bin diesem Wesen einmal begegnet. Damals, als ich herbefördert wurde.«
    ***
    »Ich stamme aus London, 1888«, berichtete Geoffrey Beaumont. »Und ich war ein ziemlicher Dandy, sofern Ihnen das ein Begriff ist. Ich lebte für das Leben selbst, genoss mein Auskommen und erging mich im gepflegten Müßiggang. Keine Party, auf der ich nicht eingeladen war. Kein neues Theaterstück, dessen Premiere ich nicht besuchte. Und keine allein stehende Dame aus gutem Hause, der ich nicht auf die ein oder andere Art meine Aufwartung gemacht hätte. Meine Mutter nannte mich schon als Kind einen Tunichtgut, der nie erwachsen werden würde, und je älter ich wurde, desto mehr musste ich der seligen Frau zustimmen.«
    Er lachte leise. »Lange her. Manchmal kommt es mir vor, als wäre das ein ganz anderes Leben gewesen. Jedenfalls kam ich eines Nachts, es war im Frühling, von einem Fest, welches mein guter Freund Ernest in der Fleet Street gegeben hatte. Ich muss gestehen, dass ich dem Brandy bei dieser Gelegenheit mehr als ausgiebig zugesprochen hatte, denn die Gattin des Earls of Cumberland, die gerade wieder in der Stadt weilte, hatte mich noch am Nachmittag davon in Kenntnis gesetzt, dass sie beabsichtigte, meine Liebesbriefe der… Aber lassen wir das. Die Wehen eines Lebens als Mann meines Standes interessieren Sie sicher nicht.«
    Josephine wagte nicht zu widersprechen. Alles, was Geoff ihr schilderte, war vollkommenes Neuland für sie. »Ich kam also recht volltrunken von besagter Feierlichkeit«, fuhr er fort, »denn bei Frust ist der Alkohol stets mein bester Freund gewesen. Und wie ich so durch das nächtliche London streifte, sprach mich in einer menschenleeren Gasse eine Stimme an. Sie klang rau und tief, und für einen Moment glaubte

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