0920 - Welt der Stille
hatte. Auch die Begegnung mit den Tentakeln im Nebel ließ sie nicht aus. Beaumont hörte geduldig zu und strich sich mehrmals gedankenverloren imaginäre Flusen von der Strickweste. Dann hob er den Kopf. »Gutenberg, sagen Sie? Sie… Sie kennen Johannes Gutenberg? Guter Gott, was für eine Ehre!«
Ehre? Die Winzertochter traute ihren Ohren kaum. Was sollte denn daran ehrenvoll sein, diesen versoffenen Handwerker zu kennen?
»Ich muss schon sagen«, fuhr Beaumont fort. »So unangenehm und einsam der Aufenthalt in dieser… Welt, wenn Sie so wollen, auch ist, kann man ihm einen gewissen Reiz nicht abstreiten. Überall trifft man auf Geschichte und Geschichten. Erst kürzlich stieß ich bei meinen Wanderungen auf eine römische Villa in Topzustand, und nun stehe ich einer gar reizenden Dame vom Rhein gegenüber, die den Erfinder des Buchdrucks kannte. Gott, was für ein Leben.«
»Erfinder des Buchdrucks«, wiederholte sie spöttisch und schnaubte. »Mit dem Teufel im Bunde ist er! Ich habe den Dämon selbst gesehen, den Gensfleisch sich in seine Werkstatt geholt hat. Leute wie er gehören verbrannt.«
»Na na na, solch hartes Urteil aus einem so bezaubernd weichen und wohlgeformten Mund!« Abermals hob Beaumont die Hand. »Ein Dämon, sagen Sie? Etwa ein dunkles Wesen, mehr Schemen als Substanz? Rot glühende Augen in einer Form aus Schwärze?«
Sie nickte. »Genau der. Nur, dass er sich mittlerweile unter einer Kutte verbirgt.«
Der Fremde schluckte, und sein Gesicht sah aus, als sei er auf irgendeine absurde Weise amüsiert. Beiläufig strich er sich mit der linken Hand das glatte Haar zurück. Als er wieder zu Josephine blickte, war er mit einem Mal völlig ernst. »Wenn Sie gestatten, Miss Becker, würde ich Ihnen gerne etwas zeigen. Es dürfte Sie interessieren.«
***
Die Luft war kühl. Unangenehm strich sie ihr um die Beine - wie kalte Finger, die nach einer nicht genügend bedeckten Stelle Haut suchten. Das Licht, das von einer unerkennbaren himmlischen Quelle ausgehend, herunterfiel und die Szenerie erhellte, war so dumpf und trüb, wie Josephine es noch nie erlebt hatte. Und der Nebel…
Gott, wie dicht und undurchdringlich ist diese Suppe denn? , fragte sich die Winzertochter in Gedanken. Und warum hatte sie nur eingewilligt, sich abermals auf einen Marsch durch die Schwaden zu begeben, nach draußen, jenseits der schützenden Mauern von Geoffreys opulent ausgestatteter Behausung? So ungefähr musste es sein, wenn man blind war - hilflos dem ausgeliefert, was immer einen auch erwartete.
Seit etwa einer Viertelstunde schritten sie nun schon durch das Grau, hintereinander und mit einem Strick, den sie sich um die Hüften geschlungen hatten, verbunden. Bei Sichtverhältnissen von unter zehn Zentimetern war dies eine Vorsichtsmaßnahme, auf die Beaumont nicht hatte verzichten wollen, und Josi schickte ihm, dem schweigend und zielsicher vor ihr durch den Dunst wandernden Schemen, nun einen dankbaren Blick hinterher.
Sie sprachen wenig, nicht nur aus Sorge darüber, unliebsame und mit schuppigen Greifarmen ausgestattete Wegelagerer anzulocken. Es gab schlicht wenig zu sagen, so absurd das auch klingen mochte. Beaumont hatte ihr erklärt, dass die Nebelsphäre ein temporaler Nicht-Ort war, eine Art Gefängnis jenseits der Zeit, in das immer wieder Relikte, Personen und Bauwerke unterschiedlichster Epochen fielen. Warum, wusste er nicht zu sagen, schrieb es aber dem Dämon zu, den sie beschrieben hatte. Hier, so Geoffrey weiter, sei es zum Beispiel durchaus möglich, einen schlichten Verschlag aus den Anfangstagen der Christenheit neben einer Ritterburg des frühen Mittelalters stehen zu sehen - vorausgesetzt, man machte sich die Mühe, durch den Nebel zu waten und sie zu finden.
»Ein faszinierender Ort«, hatte er gesagt und gelacht, als wundere er sich über seine eigene Wortwahl. »Und der vielleicht Einsamste, den Sie sich vorstellen können, Miss Becker. In all den Monaten, die ich nun schon hier verbringen muss, sind Sie das erste menschliche Wesen, das meinen Weg kreuzt. Ich danke dem Schicksal dafür, dass Sie ein so reizendes weibliches Geschöpf sind, und nicht etwa ein grobschlächtiger Fischhändler aus Soho.« Dabei hatte er den Blick seiner blauen Augen ein wenig zu lange über ihre Rundungen schweifen lassen.
Josephine errötete noch bei der Erinnerung. Wo immer dieser seltsame Kerl auch herkam, er schien genau die Sorte Mann zu sein, vor der ihre Mutter sie immer gewarnt hatte: ein
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