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0920 - Welt der Stille

0920 - Welt der Stille

Titel: 0920 - Welt der Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Borner
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ich, einen der zahlreichen Obdachlosen aufgeschreckt zu haben, welche diese Gegend der Themsemetropole säumen wie Blumen einen gepflegten Garten, doch… irgendetwas war anders.«
    Ein Schauer lief Geoffrey über den Körper. »›Was wünschst du dir?‹, fragte die Stimme. Nichts weiter als das, verstehen Sie? Hätte er nach einer konkreteren Auskunft gebeten, mir Wahlmöglichkeiten offeriert, vielleicht wäre die Sache anders ausgegangen. Aber er ist ein Meister des Wortes, unser finsterer Freund, oh ja. Er weiß genau, wie er uns kriegt.«
    Kurz schielte Josephine zurück zu der Zeichnung an der Wand.
    Geoffrey räusperte sich. »Um eine lange Geschichte kurz zu machen: Ich war viel zu betrunken und viel zu frustriert über mein Schicksal, um dieser Frage etwas Negatives abgewinnen zu können. Und so antwortete ich auf die eine, die einzig mögliche Weise - ich nannte Dandrono das, was ich und meinesgleichen uns auf unseren Zusammenkünften immer wünschten, wenn der Alkohol unsere Zungen locker und unseren Verstand weich gemacht hat. ›Die Welt‹, sagte ich in meinem Brandy-Größenwahn. ›Ich wünsche mir, dass mir die ganze Welt zu Füßen liegt.‹ Die Gestalt in den Schatten kicherte amüsiert, und ihre nächsten Worte verfolgen mich noch heute jede Nacht im Traum. ›Das lässt sich einrichten‹, sagte sie. ›Das lässt sich wirklich einrichten.‹«
    »Was geschah dann?«, hakte Josi nach, als Geoff nicht weiter sprach.
    »Dann?« Er seufzte. »Nicht mehr viel. Ich ging heim, hatte die seltsame Begegnung schon nach Minuten wieder vergessen, und schlief meinen Rausch aus. Doch als ich am nächsten Morgen erwachte, war ich hier. Mitsamt meinem Haus. Einfach so. Das nenne ich mal einen Kater…«
    »Aber ihr Wunsch…?«
    Geoff hob die Hände, deutete um sich. Mit einem Mal war Josephine, als könne sie hinter die Fassade aus Gefasstheit und Humor blicken, die er um sich errichtet hatte. Und was sie sah, war ein hilfloser Mann, dem die Zügel seines Schicksals aus der Hand genommen worden waren. »Wurde erfüllt«, sagte er bitter. »Er hat sein Versprechen wahr gemacht, junge Frau. Die Welt gehört tatsächlich mir. Nur handelt es sich ganz offensichtlich nicht um die, aus der wir beide stammen.«
    ***
    Mainz, 1455
    Die Gestalt kam immer näher, ein Wesen aus Substanz gewordener Schwärze, und Henne war, als würden ihm ihre glühenden Augen bis in die tiefsten Winkel seiner Seele hineinblicken. Mit einem Mal kam er sich nackt vor, nackt und ertappt - moralisch, menschlich. Was war nur geschehen, dass ein ehrbarer Unternehmer wie er so tief hatte fallen können? Wie ging es an, dass eine einzige Frage, ein simples geschäftliches Angebot, zu etwas geführt hatte, dass sich nun mehr und mehr wie der Beginn einer Apokalypse anfühlte?
    »Gensfleisch, Gensfleisch… Was soll ich nur mit dir machen?« Die Stimme des Finsteren, der sich Dandrono nannte, war rau und hart. Wie die Klinge eines Messers schnitt sie durch die nächtliche Stille der Werkstatt. Nie zuvor hatte sich Henne so allein gefühlt.
    »Nicht nur, dass du ganz offensichtlich trödelst«, fuhr Dandrono fort. »Nein, du verletzt auch noch deine Aufsichtspflichten. Du hast…« Er brach ab, und das höllische Leuchten seiner Augen intensivierte sich noch. Als bereite es ihm Mühe, seinen Zorn im Zaum zu halten. »Du hast Professor Zamorra entkommen lassen. Du und dieser Idiot von Slissak, den ich ebenfalls noch für seine tumbe Art bestrafen werde.«
    Henne hob langsam die Arme, eine Geste der Demut und der Unterwürfigkeit. »Herr, ich…«
    »Schweig!«, schallte der Ruf des Finsteren durch den Raum, brachte die Scheiben zum Schwingen und ließ Papierbögen erzittern. »Es gibt nichts, dass du mir noch erklären könntest. Geschehen ist geschehen, und kein Wort aus deinem jämmerlichen Mund bringt mir den Professor zurück.«
    Gensfleisch schluckte trocken, doch der Kloß in seinem Hals verschwand nicht. Irrte der Drucker sich, oder wurde es tatsächlich dunkler im Zimmer? »Herr, ich verstehe nicht, welchen Nutzen Ihr Euch von dem Franzmann versprecht? Er und auch die junge Josephine sind doch nichts weiter als Statisten in Eurem eigentlichen Werk, Menschen ohne Bedeutung.«
    Dandrono schwieg, lauernd. Ein Schweigen, das noch schlimmer war als sein Ausbruch von zuvor. Dann lachte er. »Sag du mir nicht, was für mich Bedeutung hat, Drucker. Du nicht, klar? Mit Zamorra habe ich noch eine Rechnung offen, die ich zu begleichen beabsichtige.

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