0921 - Die Trennung
spindeldürre Mann arbeitete seit vielen Jahren als einer der zahlreichen Hausmeister und Gärtner in Les Halles. Er kannte sich in dem riesigen, unübersichtlichen Komplex zwischenzeitlich bestens aus, auch wenn er ihn wegen seiner modernen Architektur noch immer nicht mochte. Denn Domenech war rückwärts gewandt, er lebte eher in der Geschichte. »Früher war alles besser«, war einer seiner Lieblingssprüche und er glaubte tatsächlich daran.
Zuhause brachten Geschichts- und Sachbücher die Regale fast zum Bersten. Er las in dieser Beziehung, was er bekommen konnte. So wusste er über die Vorgeschichte von Les Halles bestens Bescheid.
Im 12. Jahrhundert war dieses Gebiet ein Marktzentrum gewesen, der so genannte »Bauch von Paris«. Im Mittelalter hatte sich der größte innerstädtische Friedhof, der Cimetiere des Innocents, hier befunden. Nachdem 1780 ein Gemeinschaftsgrab geplatzt war und die Leichen in die angrenzenden Keller geschleudert wurden, hatte der Polizeidirektor den Friedhof der Unschuldigen schließen und einen Teil der Gebeine in die Katakomben der Stadt verbringen lassen. Das stark belastete Gelände hatte die Pariser Administration erneut für einen Markt genutzt, auf dem Lebensmittel verkauft wurden.
Früher war alles besser…
Im 19. Jahrhundert waren dann gusseiserne Hallen errichtet worden, in denen man alles kaufen konnte, was das Land zu bieten hatte. In neuerer Zeit war das Hallenviertel dann stark erneuert und zu einem modernen Einkaufszentrum samt Kinos, Theatern, Cafés und anderen Einrichtungen ausgebaut worden.
Es war bereits dunkel draußen. Trotzdem musste Domenech noch einmal in die Gartenanlage vor dem Forum Des Halles, um zwei abgestorbene Büsche auszugraben. Er war im Verzug und bis morgen früh musste es erledigt sein. Also war Nachtarbeit angesagt.
Und wenn ich fertig bin, gehe ich noch ganz gemütlich in die Rue St. Denis und such mir ‘ne schöne Nutte aus. Und danach noch ein gepflegtes Viertelchen Bordeaux, dann passt das schon…
Er ergriff Spaten und Hacke, nahm einen Halogenstrahler aus dem Regal und machte sich daran, im Schein des künstlichen Lichts den ersten Busch auszugraben.
Wahrscheinlich sind Wühlmäuse drunter, da muss ich mich mal morgen kümmern…
Domenech stach den Spaten in den weichen Rasen und schichtete den Aushub sorgfältig zu einem kleinen Berg auf. Plötzlich wackelte die Erde unter ihm.
»Hä?« Er hielt inne, starrte ängstlich auf den Boden. »Ein Erdbeben? Oder sinkt ein U-Bahnschacht ein?«
Weglaufen? Bleiben? Bevor er sich zu einem Entschluss durchringen konnte, brach nur etwa zwei Meter von ihm entfernt die Erde auf! Im Schein des Halogenstrahlers flogen Grassoden und Erdkrumen durch die Luft, als sei irgendetwas im Boden explodiert.
Domenech starrte verstört auf die Stelle. Statt des erwarteten Maulwurfs wühlte sich eine Hand aus der Erde! Weiß wie Schnee sah sie aus, das konnte er trotz der Erdkrumen, die an ihr hingen, deutlich erkennen.
Mein Gott, die Toten kommen zurück! Der Friedhof der Unschuldigen, er spuckt sie wieder aus! Das Jüngste Gericht hat begonnen.
Charles Domenech wollte wegrennen, so schnell wie möglich fliehen. Er konnte nicht. Wie hypnotisiert starrte er auf die Hand mit den überlangen Fingernägeln, die sich streckte und dehnte, als müsse sie sich nach Jahrhunderten währendem Schlaf erst wieder geschmeidig machen.
Furcht und Entsetzen des Hausmeisters steigerten sich zu heller Panik, als sich die Totenhand plötzlich weiter aus dem Erdreich herauszuarbeiten begann. Der Boden um die Hand bewegte sich erneut, hob sich ein wenig an und wurde brüchig, so, als wolle eine enorme Kraft von unten durchstoßen.
Als bereits der Unterarm sichtbar war, erfolgte die zweite »Explosion«, viel stärker als die erste. Erdschollen flogen wie Geschosse nach allen Seiten, trafen Domenech im Gesicht und ließen ihn aufbrüllen. Dem Arm folgte eine Schulter, ein zweiter Arm, ein Kopf – und es ging rasend schnell. Innerhalb weniger Sekunden stand eine Erscheinung absoluten Grauens vor Charles Domenech.
Der Gärtner röchelte und streckte abwehrend die Arme aus.
»Nein, nein…«, flüsterte er.
Ein weißes Totenhemd, schmutzig, mit großen Löchern durchsetzt und noch von der daran hängenden Erde beschwert, hing an der Gestalt wie ein schwerer Vorhang. Pergamentartige, eingefallene Haut spannte sich über die sichtbaren Körperteile des Zombies, an einigen Stellen kamen sogar die blanken Knochen
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