0923 - Die Henkerin
gefallen.
Statt dessen blieb diese verfluchte Stille, und mein Mißtrauen wuchs.
Die Mitarbeiter des Verlages waren nicht in einem Raum untergebracht, es gab verschiedene Büros, aber die Türen zu ihnen waren geschlossen. Um diese Zeit wirkte der Flur tot und so, als wäre die Belegschaft in Urlaub gegangen.
Ich blieb nach einigen Schritten stehen. Über meinen Rücken floß eine kalte Haut. Ich las die Schilder mit den Namen neben den Bürotüren. Keiner sagte mir etwas, und ein Foto von Carlotta hatten wir auch nicht an der Wand entdeckt.
Hier stimmte einiges nicht!
»Es ist zu ruhig, John.«
»Das kannst du laut sagen.«
»Und was willst du tun?«
»Ich suche das Büro des Chefs.«
»Kennst du denn seinen Namen?«
»Ja, den las ich im Impressum. Er heißt Donald Virgin. Mal sehen, wo er hockt.«
Zu zweit passierten wir die Bürotüren, ohne allerdings eine von ihnen zu öffnen. Den Namen Virgin entdeckten wir an der zweitletzten Tür. Dort ging es zu seinem Vorzimmer.
»Hier«, sagte ich.
Eine Sekretärin residierte hinter der Tür. Ihren Namen hatte ich so schnell vergessen, wie ich ihn gelesen hatte. Ich drückte meinen Begleiter zurück, dann öffnete ich die Tür, schob sie langsam nach innen. Im Raum läutete wieder das Telefon, aber niemand hob ab. Ich ließ es klingeln und schaute mich um.
Nichts war aufgeräumt. Das Büro sah aus, als wäre es gerade erst verlassen worden, aber hier war sicherlich niemand zur Mittagspause gegangen, das wußte ich.
Helle Möbel, Poster, ein PC, eine alte Schreibmaschine, die wie ein Denkmal unter Glas stand, das alles nahmen wir mit einem Blick auf, aber ein Mensch war nicht zu sehen.
Oder…?
»John«, sagte mein Begleiter mit leiser Stimme. »Du wirst es nicht glauben, aber ich rieche Blut.«
Ich kriegte eine Gänsehaut, als ich die Worte hörte. Einen ungewöhnlichen Geruch hatte ich ebenfalls wahrgenommen, aber an Blut hatte ich in diesem Moment nicht gedacht.
»Kein Irrtum?«
»Ich glaube nicht.«
Ich durchstreifte das Büro, ohne die Quelle des Blutgeruchs entdecken zu können. Es war nicht der Raum des Chefs, zu dem führte eine weitere Tür, die ich zuerst öffnete. Godwin de Salier blieb dicht hinter mir. Sein warmer Atem streifte meinen Nacken. Ich hörte ihn auch leise stöhnen, als stünde er vor einer wichtigen Entscheidung.
Ich drückte die Tür auf.
Ein großer Raum tat sich auf. Er lag im Halbdunkel, weil die Lamellenrollos vor die beiden Fenster gefallen waren. Lichtstreifen hatten Muster auf dem blaugrauen Teppich hinterlassen.
Den Mittelpunkt des Raumes bildete ein Schreibtisch. Wer hinter ihm saß, der konnte auf eine breite Pinnwand mit dort aufgehängten Bildern schauen.
Donald Virgin sah die Bilder nicht mehr, obwohl er hinter seinem Schreibtisch hockte.
Jemand hatte ihn schrecklich zugerichtet!
***
Plötzlich lag ein bitterer Geschmack in meinem Mund. Auch der kalte Schauer klebte auf meinem Körper fest. Ich wollte dieses grausame Bild einfach nicht wahrhaben. Etwas in mir wehrte sich dagegen, aber das Bild blieb.
Der Mann war tot.
Ich stand auch nicht in einem dieser schlimmen Horrorfilme. Niemand rief Action, niemand erklärte, daß die Szene aus war, das hier war blutige Realität, und damit stand für mich endgültig fest, daß sich Godwin de Salier nicht geirrt hatte.
Er hielt sich neben mir auf, und ich mußte ihm ein stilles Kompliment machen, denn er hielt sich tapfer, brach nicht zusammen. Statt dessen nickte er, wobei er flüsterte: »Ich habe es geahnt. Ich habe es gewußt. Alles ist so gekommen, wie ich es vermutet habe. Es gibt sie noch, die ist nicht tot.«
Ich schwieg, denn meine Gedanken drehten sich bereits weiter. Ich dachte auch daran, daß dieser Donald Virgin sicherlich nicht der einzige Mensch gewesen war, der sich hier aufhielt. Es gab andere Mitarbeiter, und ich fragte mich, ob sie noch lebten.
»Laß uns gehen!« schlug ich vor.
Der Bretone nickte. Er war bleich geworden. Das Gesicht sah blaß aus wie Schafskäse.
»Du denkst an die anderen, nicht?«
»Sicher.«
»Sie ist die Henkerin!« flüsterte er. »Sie kennt keine Gnade. Die hat sie noch nie gekannt. Ob damals oder heute, sie ist immer so verdammt brutal gewesen.«
Schweigend verließen wir den Raum. Dabei war ich sehr vorsichtig und stand wie unter Strom. Im Gegensatz zu draußen war es in diesen Räumen angenehm kühl. Dafür sorgte nicht nur die Klimaanlage, es lag auch an der Kälte des Todes.
Ich schaute in die Grafik. Zwei
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