0929 - Engelsblut
Problem lag noch vor ihr. Sie mußte sich auf das Rad schwingen, wobei sie das Wort schwingen vergessen konnte. Es würde ihr Mühe bereiten, sich auf den Sattel zu setzen und in die Pedale zu treten, um von der Stelle zu kommen.
Es gab keine andere Möglichkeit für sie. Das Schicksal hatte sie dazu ausersehen. Das Schicksal hatte ihr auch den Weg gewiesen, und es hatte eine neue Seite im Buch ihres Lebens aufgeschlagen.
Marcia hielt das Rad mit beiden Händen fest. Sie hatte sie um die Griffe am Lenker geklammert. Sie wollte es gerade halten, was ihr aber nicht möglich war. Es zitterte zwischen ihren Händen, es kam ihr doppelt so schwer vor, aber Marcia biß sich durch. Sie schaffte es, aufzusteigen, sie trat an und fuhr los.
Marcia war zäh, sie gab nicht auf. Sie schaltete ihre Gedanken ab. Sie fuhr ohne Licht, aber sie kannte die Gegend ja im Schlaf, was ihr nun zum Vorteil gereichte. Und sie näherte sich dem Ziel.
Irgendwann, zeitlich für sie nicht zu bestimmen, sah sie den kompakten Schatten des Hauses vor sich auftauchen und stellte sogar fest, daß noch einige Fenster erleuchtet waren. Ihre Nachbarn konnten bei dieser Hitze kaum schlafen. Sie lagen noch nicht im Bett, aber das kümmerte sie nicht mehr, denn sie hätten ihr sowieso nicht helfen können. Es kam einzig und allein auf sie an.
Marcia wäre beinahe bis gegen die Hauswand gefahren. Im letzten Augenblick drehte sie das Rad nach rechts, und so rutschte sie nur an der Wand entlang, wobei sie sich noch ihre linke Hand aufschabte. Dann kam das Rad zur Ruhe, sie konnte endlich absteigen und lies es an der Hauswand gelehnt stehen.
Die Frau spürte festen Boden unter ihren Füßen. Trotzdem kam es ihr vor, als würde sie wegschwimmen. Dieser Unterschied vom Rad auf den Boden war nicht so leicht zu verkraften, und die Wunde schmerzte wieder stärker, als wäre sie mit einer ätzenden Säure beträufelt worden. Die Schmerzen waren schlimmer geworden, aber Marcia wußte auch, daß sie sich bald in Sicherheit befand und sich dort einiges ändern würde. Nun mußte sie sich um sich selbst kümmern und bei ihr das anwenden, was sie sonst bei anderen tat.
Es glich schon einem kleinen Wunder, daß Marcia es beim erstenmal überhaupt schaffte, die Haustür zu öffnen. Sie stolperte in den Flur. Ohne Licht kam sie nicht aus, weil sie Furcht davor hatte, die Treppe zu verfehlen und so hielt sie sich krampfhaft am Geländer fest, um den Weg zu ihrer Wohnung in der Tiefparterre zu gehen.
Jedes Auftreten war eine kleine Hölle für sich. Sie schaute an ihrer rechten Seite herab. Die Wunde blutete auch weiterhin und entließ ebenfalls die rote Flüssigkeit. Sie war zu Boden getropft und zeichnete ihren Weg als Spur nach.
Bei der Wohnungstür klappte es nicht so schnell. Da hatte sie mehr Mühe, sie aufzuschließen. Zudem lagen Tränen in ihren Augen. Sie verschlechterten die Sicht, aber Marcia drückte die Tür schließlich auf und ging über die Schwelle.
Dann war sie im Flur.
Die nächsten Schritte fielen ihr wieder schwer. Sie drückte eine Tür auf und machte Licht.
Es war das Zimmer, in dem sie ihre Patienten behandelte. Keine Einrichtung wie in einer normalen Arztpraxis, zwischen diesen Wänden sah es ganz anders aus.
Marcia hatte sie hell streichen lassen, denn sie wußte, daß ihre Patienten dunkle Wände nicht mochten. Sie gaben ihnen das Gefühl, eingeschlossen zu sein. Bei hellen Wänden aber wirkte alles viel freundlicher und netter, aber dafür hatte die Frau jetzt keinen Blick. Auch nicht für die Liege und für den hellen Glasschrank, in dem Verbandsmaterial und einige andere Dinge aufbewahrte.
Sie ging zu einem schmalen Einbauschrank in der Wand. Er war mit einem besonderen Schloß gesichert, und Marcia mußte zunächst einen Code einstellen, um die Tür zu öffnen.
Sie lauschte dem kleinen Klicken. Die Spannung in ihr wuchs. Marcia wußte, daß sie das Ende ihres ersten Wegteils beinahe erreicht hatte. Zwar fühlte sie sich nicht gesund, aber es ging ihr besser, und aus dem Schrank holte sie etwas hervor.
Zum Glück brauchte sie sich nicht zu bücken, weil die Schale auf einem Regal in gut erreichbarer Höhe stand. Sie umfaßte sie mit beiden Händen und betete, daß sie ihr nicht aus den Fingern rutschte. Das schien geholfen zu haben.
Vorsichtig stellte sie die Schale auf einem Tisch neben der Liege ab. Da spürte sie wieder den Schwindel. Sie mußte sich abstützen. Am liebsten wäre sie auf die Liege gesunken, aber sie mußte
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