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093 - Der Geist im Totenbrunnen

093 - Der Geist im Totenbrunnen

Titel: 093 - Der Geist im Totenbrunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cedric Balmore
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hatte sich offenbar blitzschnell angezogen und sah dementsprechend erhitzt aus. In ihren Augen strahlte noch der Abglanz des soeben Erlebten, aber um ihren Mund lag ein ärgerlicher Zug. Sie machte keinen Hehl daraus, wie unpassend sie die Störung durch den Fremden empfand.
    „Sie wünschen?“ fragte sie barsch.
    Seltsamerweise tat es Leroy nicht einmal weh, daß Daphne ihn nicht erkannte. Im Gegenteil. Er fand es sogar wohltuend, vom Schicksal eine so vollkommene Maske erhalten zu haben. Für einen Rächer war es die perfekte Verkleidung.
    „Mein Name ist Carrington“, sagte er. „Leroy Carrington.“ Er hatte sich versprochen und seinen wirklichen Vornamen genannt, aber Daphne schien es nicht bemerkt zu haben. Sie war nur über die Störung erbost und zeigte es auch ganz deutlich.
    „Ich komme soeben vom Begräbnis meines Mannes. Sie werden verstehen, daß ich augenblicklich nicht in der Lage bin, irgendwelche Besucher zu empfangen…“
    „Wann darf ich wiederkommen?“
    „Sagen Sie mir erst, worum es sich handelt, bitte…“
    „Um den Herrn von Marhill Place.“
    Daphne zuckte kaum merklich zusammen. „Wie bitte?“
    „Um W. Carinius“, sagte er lächelnd. „Er hat hier gelebt, so um 1500 herum.“
    „Ja, ich erinnere mich, sein Name steht in den Annalen“, sagte Daphne. Es war nicht klar ersichtlich, ob bei ihr das Erstaunen oder die plötzliche Nervosität überwogen. Jedenfalls hatte sie aufgehört, sich wütend und verärgert zu geben. Er spürte ihre intensive Aufmerksamkeit, aber auch ihr plötzliches Mißtrauen. Sie schien sich zu fragen, was von seinem Besuch zu halten war und bemühte sich vergeblich, eine passende Antwort darauf zu finden.
    „Es heißt, daß ich ihm ähnlich sehe – und auch mein Name läßt ja gewisse Zusammenhänge erkennen“, erklärte Leroy mit dünnem Lächeln. Er fühlte, daß sein Lächeln kalt war, beinahe grausam. Er wunderte sich nicht darüber. Was er gesehen und erlebt hatte, ließ keine andere Reaktion zu.
    „Wollen Sie damit sagen, daß Ihre Vorfahren hier gelebt haben?“ fragte Daphne.
    „Ich betreibe ein bißchen Ahnenforschung auf eigene Faust“, sagte er. „Ich wage der Hoffnung Ausdruck zu verleihen, daß ich dabei Ihre Unterstützung finden werde.“
    „Es gibt ein Gemälde von diesem Carinius im Museum – es hat tatsächlich Ähnlichkeit mit Ihnen“, sagte Daphne. „Aber wie sind Sie auf Marhill Place gekommen? Gibt es in Ihrer Familie Dokumente oder Aufzeichnungen, die diesen Besuch rechtfertigen?“
    „Ja“, behauptete er. „Es gibt Verbindungen.“
    „Das interessiert mich“, sagte Daphne zögernd, „aber Sie werden verstehen, daß ich heute nicht imstande bin, dieses Thema mit Ihnen zu erörtern.“
    „Ja, natürlich“, murmelte er. „Schließlich sind Sie von einem schweren Verlust betroffen worden…“
    Er war verdutzt, daß in Daphnes Augen plötzlich ein paar Tränen glitzerten. „Rufen Sie mich an, morgen oder übermorgen“, bat sie, machte abrupt kehrt und schloß die Tür.
     

     
    Chester ging. Daphnes unerwartete Tränen verwirrten ihn. Er fragte sich, ob ihre Untreue und das Verbrechen, dessen sie sich schuldig gemacht hatte, möglicherweise durch sein Mitwirken zustande gekommen waren. Hatte er sie vernachlässigt? Hatte er sich zu viel mit seiner Schreiberei, seinen Büchern und Marhill Place, und zu wenig mit seiner Frau beschäftigt?
    Schließlich hatte er gewußt, daß Daphne lieber in der Stadt lebte, daß sie Theater und Gesellschaft brauchte…
    Zwar hatte sie niemals versucht, ihn ernsthaft zu einer Rückkehr in die Stadt zu bewegen – es hatte auch Tage und Wochen gegeben, wo sie voll des Lobes über Marhill Place gewesen war – aber jetzt glaubte er zu wissen, daß Daphnes Gefühlsumschwung nicht so sehr von Marhill Place, als vielmehr von dem immer häufigeren Auftauchen seines Freundes Harry O’Neill bestimmt worden war.
    Harry…
    Leroy holte tief Luft. Auch wenn er sich an der Entwicklung mitschuldig gemacht hatte, gab es keine Entschuldigung für die gemeine, niederträchtige Art, mit der man ihn aus dem Wege geräumt hatte, Chester blieb stehen. Er wollte mehr erfahren, gewisse Einzelheiten, auch das kleinste Detail. Er wollte nicht blindlings rächen, sondern herausfinden, was diese beiden Menschen zu Mördern gemacht hatte. Zu Mördern an ihm, dem angeblich ihre Liebe und Freundschaft gehört hatte…
     

     
    Leroy machte kehrt, schlug einen großen Bogen und näherte sich dem

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