0930 - Das Stigma
wir das Problem nicht gelöst.«
»Warum das denn nicht?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Geist des Engels so einfach aufgibt. Ich denke, daß er dich auch verfolgen wird.«
»Aber der Spiegel…«
»Hat nur indirekt damit zu tun. Der Geist ist nicht in ihm gefangen, daran kann ich nicht glauben. Wir müssen ihn haben und entsprechend reagieren.«
»Das wird nicht einfach sein.«
»Da gebe ich dir recht.«
Marcia ging im Zimmer auf und ab. Zweimal geschah dies, dann blieb sie stehen. »Wenn ich dich so reden höre, habe ich das Gefühl, daß du schon an einem Plan bastelst…«
»Zumindest denke ich darüber nach.«
»Läßt du mich daran teilhaben?«
»Das muß ich wohl, denn du bist hier wohl die Hauptperson.«
»Gut, ich höre.«
»Daß ich dich mit dem Stigma im Spiegel gesehen habe, darüber brauchen wir nicht mehr zu reden. Das ist eine Tatsache. Du selbst weißt nicht, wie du in den Spiegel hineingekommen bist, aber ich habe dich darin gesehen. Irrtum ist ausgeschlossen.«
»Ich soll also hineingehen?«
»Ja.«
»Das geht nicht.«
»Versuche es.«
»Bitte, John, mach dich nicht lustig über mich. Dazu ist die Sache zu ernst.«
»Das ist kein Spaß. Ich habe den Spiegel berührt, ich habe keinen Erfolg gehabt, aber du bist schon in ihm gewesen.«
Sie schaute mich noch einmal an, dann hob sie die Schultern und gab sich lässig. »Wenn du meinst, starte ich einen Versuch.« Mit zielsicheren Schritten näherte sie sich dem Spiegel, streckte den rechten Arm aus und drückte die Hand dagegen.
Nichts passierte.
Sie schaute mich an, gab noch mehr Druck, aber die Fläche hielt. Es gab keine Risse, keine Spalten, sie blieb ganz, es war auch kein Knirschen oder Klirren zu hören. Der Spiegel stemmte ihr den normalen Widerstand entgegen.
Marcia zog die Hand wieder zurück. »Pech gehabt«, erklärte sie, »es tut mir leid, aber so kommen wir nicht weiter. Es ist mir unmöglich, den Spiegel zu betreten. Er ist wie eine Tür, die ich erst aufdrücken muß, um den dahinterliegenden Raum zu betreten, aber das ist bei diesem Spiegel nicht möglich.«
»Aber du warst darin«, sagte ich leise.
»Das bestreite ich auch nicht.«
»An wem kann es denn gelegen haben? An dir oder an dem Spiegel? Wo stammt er überhaupt her? Weißt du das? Haben deine Eltern mit dir schon darüber gesprochen?«
»Nein, nie.«
»Dann weißt du nicht, ob…«
»Moment«, sagte sie, »das weiß ich schon. Ich weiß sehr gut, was mit diesem Spiegel los ist. Meine Eltern haben ihn gekauft. Aber es ist ein normaler Spiegel. Um ihn herum haben sich nie Geschichten gerankt. Es ist ein völlig normaler Gegenstand, auch wenn wir es beide nicht glauben wollen.«
»Irrtum, Marcia, das will ich schon. Ich bin auch bereit, mein Denken zu verändern…«
»Das verstehe ich nicht.«
»Keine Sorge, wirst du gleich.« Ich deutete auf den Spiegel. »Es geht natürlich um ihn, um ihn allein. Er ist derjenige, mit dem wir vorerst zu tun haben. Bisher war ich der Meinung gewesen, daß Spiegel nur dann als transzendentale Tore benutzt werden können, wenn sie eine gewisse Vergangenheit haben und auf irgendeine Art und Weise magisch geformt worden sind. Oder unter einem magischen Einfluß standen. Das ist bei diesem hier wohl nicht der Fall.«
Marcia nickte. »Ich fange allmählich an, es zu begreifen. Dieser Engelgeist hat es wohl geschafft, einen völlig normalen Spiegel in seinem Sinne zu manipulieren.«
»Richtig.«
»Das ist ein Hammer!« flüsterte sie und schüttelte den Kopf. »Auch für mich, wo ich nicht viel mit diesen Dingen zu tun gehabt habe, ist es kaum zu begreifen.«
»Weiß ich.«
Sie hob die Schultern. »Dann haben wir wohl keine Chance mehr, an diesen Spiegel heranzukommen und ihm sein Geständnis zu entlocken. Oder siehst du das anders?«
»In der Tat.«
»Ach«, sagte sie nur und trat einen Schritt zurück. »Das mußt du mir erklären.«
»Es liegt an dir, Marcia, einzig und allein an dir. Ich habe dich in diesem Spiegel gesehen. Das Bett war leer, er muß dich also geschluckt haben, während du schliefst. Du bist, ohne es zu merken, aus dem Bett geklettert und auf den Spiegel zugegangen. Eine andere Lösung gibt es nicht.«
Sie schwieg. Aber ihre Gedanken jagten sich, das konnte ich mir gut vorstellen. »Meinst du wirklich?«
»Ich sehe sonst keine andere Möglichkeit.«
»Und was tun wir jetzt?«
Ich schaute auf die Uhr. Noch war es Nacht, und noch bestand die Chance zu einem tiefen Schlaf. Marcia
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