0930 - Das Stigma
damit gemeint hast. Du hast mich im Spiegel gesehen und das Stigma aus Blut auf meinem Gesicht entdeckt.«
»So ist es.«
»Was denkst du darüber? Du mußt es mir sagen, denn ich kann mich nicht daran erinnern.«
Da machte sie es sich zu leicht, und ich sagte zu ihr: »Grundlos ist die ja nicht geschehen.«
»Das glaube ich auch.«
»Es kann nur mit dem zusammenhängen, was du vor einigen Jahren getan hast.«
»Du glaubst an Rache.«
»Das ist nicht falsch«, gab ich nach einer Weile zu. »Es könnte Rache gewesen sein.«
Marcia starrte ins Leere. »Ich weiß, was ich getan habe. Aber ich mußte es damals tun. Ich wollte - meine Güte, er hat es nicht geschafft, meine Eltern zu beschützen. Er hat mich praktisch allein zurückgelassen. Ich habe mir nur genommen, was mir zustand.« Sie ballte die rechte Hand zur Faust. »Das mag dir zwar ungewöhnlich vorkommen, aber ich denke so, John, oder habe so gedacht.« Sie hob die Schultern und lächelte verlegen. »Aber das ist alles eine Spekulation. Es steht fest, daß du mich im Spiegel gesehen hast. Gezeichnet durch dieses Kreuz. Den Engel aber gibt es nicht mehr. Es existiert nur noch sein Blut, mehr nicht. Eine heilende Kraft.«
»Und zugleich eine vernichtende, das darfst du nicht vergessen. Erinnere dich daran, was wir in London erlebt hatten. Wie ist denn dieser psychopathische Killer ums Leben gekommen? Das Blut hat ihn zerstört und furchtbar zugerichtet, und während er starb, habe ich für einen winzigen Augenblick ein Gesicht der Blutwolke gesehen. Ich gehe davon aus, daß es das Gesicht deines Engels war. Zudem hatte sich das Blut doch zu einem Totenkopf geformt. Dieser Doniel ist kein normaler Engel, sage ich mal. Hinter ihm muß mehr stecken.«
»Was denn?«
»Erschrick bitte nicht, wenn ich dir jetzt etwas sage. Du hast ihn zwar getötet, zumindest seinen Körper, aber ich kann mir vorstellen, daß es seinen Geist noch gibt. Ihn hast du nicht vernichten können, und er ist in der Lage, noch immer Kontakt zu dir aufzunehmen. Er wird dich auch unter Beobachtung gehalten haben.«
»Mich?« Sie holte tief Luft. »Wieso denn?«
»Er hat dich nicht vergessen.«
»Aber er ist tot.«
»Sein Geist nicht.«
Marcia hob die Schultern. Es war ihr anzusehen, daß sie mit der neuen Entwicklung nicht zurechtkam, und sie wollte auch direkt darüber nicht nachdenken, sondern kam wieder auf das Blut zu sprechen. »Ich weiß nicht, was damit ist. Ich habe mich so an das Blut gewöhnt. Ich habe es auch nur als heilende Kraft erlebt, doch als ich sah, wie es vernichtete, da war ich schon von der Rolle. Das habe ich nicht begriffen, damit kam ich überhaupt nicht zurecht. Jetzt sind wir hier, John. Wir waren davon überzeugt, den Fall restlos in diesem Land aufklären zu können. Das haben wir jetzt auch getan, aber…« Sie schaute in den Spiegel, bevor sie einen Arm hob und den Finger ausstreckte. »Ist es in deinem Sinne, wenn ich davon ausgehe, daß er noch immer sein Geheimnis für sich behalten hat, auch jetzt, wo der Engel nicht mehr ist?«
»Davon gehe ich aus.«
»Und du hast mich in dem Spiegel gesehen, wie du mir gesagt hast?«
»Das stimmt.«
Sie räusperte sich. »Wobei wir wieder beim Thema wären, denn ich weiß nicht, wie ich hineingekommen bin. Tut mir leid, ich habe angeblich geschlafen, aber es muß wohl etwas anderes gewesen sein.« Sie stand plötzlich auf, kam auf mich zu, und ich wußte, was sie wollte, als ich in ihre Augen schaute.
Ich streckte ihr die Arme entgegen. Nach dieser Bewegung löste sich die Starre aus ihrem Gesicht, und sie klammerte sich förmlich an mir fest.
Ich drückte sie an mich, ich hörte sie leise weinen, ich spürte sie, und das Weinen veränderte sich zu einem Seufzen. Marcia bewegte ihren Kopf. Die Haare schleiften an meiner Wange entlang, bis sie plötzlich ihre Lippen dicht an mein Ohr hielt und dabei auch nicht stumm blieb, denn sie flüsterte: »Ich möchte nicht mehr länger hier in Aldroni bleiben. Dieser Ort macht mir Angst. Ich habe einfach das Gefühl, als hätte man auf mich gewartet, verstehst du? Sie haben auf mich gelauert, sie wollten, daß ich zurückkomme.«
»Wer wollte es?«
»Alle.«
»Das stimmt.«
»Weiß du denn mehr?«
Meine Hände streichelten automatisch ihren Rücken. »Nein, nicht viel. Alexa Tardi hat kaum etwas gesagt, aber im Ort hier wissen sie, wo der Körper des Engels liegt. Sie sind informiert, sie haben ihn sich auch anschauen können, und die Schnittstellen deines
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