0932 - Grausame Zeit
Cichon wünschte sich Röntgenaugen, um hinter die Mauern seines eigenen Hauses schauen zu können, aber so etwas gab es leider nur im Film.
Cichon war unheimlich auf der Hut, als er sich der schmalen Treppe vor der Tür näherte. Der Regen rieselte hernieder. Um ihn herum war alles naß, aber die Tropfen klatschten nicht hörbar auf die zahlreichen Blätter.
Sie fielen leise, als wollten sie die bedrückende Stimme nicht stören.
Vor der Tür stehend sah er sich das Schloß an. Auf den ersten Blick hin schien es nicht beschädigt zu sein. Seinen flachen Schlüssel hielt er längst in der rechten Hand und schob ihn so leise wie möglich ins Schloß.
Er brauchte ihn nur einmal zu drehen, um die Tür zu öffnen. Gerda hatte sie nicht abgeschlossen.
Sie ließ sich leise nach innen drücken. Mit einem langen Schritt betrat er sein eigenes Haus, dessen Inneres ihm vorkam wie das eines Fremden.
Er fühlte sich mehr als unwohl zwischen den vier Wänden, die ihm jetzt wie ein gewaltiger Sarg vorkamen.
Die Tür war wieder geschlossen. Im Flur blieb er stehen. Er hielt den Atem an, obgleich es ihm schwerfiel.
Kein Laut war zu hören. Weder ein bekannter noch ein Fremder. Die Stille zerrte an seinen Nerven, denn Cichon wußte, daß sie nicht normal war. Oft genug war er nach Hause gekommen, da hatte ihn eine derartige Ruhe nicht überfallen. Er fühlte sich überhaupt nicht gut. Über seinen Rücken rann ein kalter Schauer. Das Herz klopfte so laut, daß er befürchtete, es wollte die Brust zerhämmern.
Wo steckte Gerda? Hatte sie sich hingelegt, um zu schlafen? Daran glaubte er nicht. In einer derartigen Streßlage konnte wohl niemand schlafen. Aber Anton Cichon wollte wissen, wo sich seine Frau befand, und er rief ihren Namen.
Zumindest hatte er das Gefühl, ihn zu rufen, aber über seine Lippen drang nur ein Flüstern.
Die Haut auf seinem Nacken zog sich zusammen. Auch der Magen verwandelte sich in einen Stein. Anton fühlte sich beobachtet. Irgendwo lauerte jemand mit eiskalten Blicken, und er wartete darauf, daß er einen Fehler beging.
Cichon löste den Hartgummiknüppel und führte das durch, was er sich vorgenommen hatte. Er wollte das Haus nach seiner Frau absuchen und fing im Wohnraum an.
Er schlich auf die Tür zu. Sie stand offen, der erste Blick fiel hinein, auch gegen die Scheibe, hinter der Garten lag. Draußen war es noch nicht dunkel geworden. Graues Dämmerlicht, vermischt mit dem herabfallenden Sprühregen füllte den Ausschnitt des Fensters. Eine Bewegung sah er nicht im Garten, auch die Terrasse war menschenleer.
Die Gartenstühle und der Tisch wirkten wie Fremdkörper.
Der Henker saugte die Luft durch die Nase ein. Er suchte nach einem fremden Geruch. Jeder hinterließ einen Geruch, und den des entlassenen Sträflings kannte er.
Plötzlich vergaß er alles. Er war einen halben Schritt jenseits der Tür stehengeblieben und hatte nur noch Augen für eine Szene, die er im Halbdunkel nicht genau sah, die aber trotzdem auffiel, weil sie sich von der üblichen Dämmerung abhob.
Genau dort, wo der halbhohe, mehr lang als breite Wohnzimmertisch seinen Platz gefunden hatte, sah er etwas Weiches, das sich auf der Tischplatte ausgebreitet hatte. Im ersten Augenblick erinnerte es ihn an Wäsche oder ein Tischtuch, unter dem sich einige Gegenstände verborgen hielten, die er nicht sofort sehen wollte.
Er ging hin.
Ihm war plötzlich übel. Cichon ahnte schon etwas, aber er wollte es genau wissen.
Als er eine Stehlampe passierte, schaltete er sie ein. Der Schirm dämpfte das Licht.
Unter dem Tisch lag etwas Dunkles, das aussah wie Stoff oder Kleidung.
Anton nahm jetzt auch einen bestimmten Geruch wahr.
Blut…?
Dann stand er neben dem Tisch. Er verdrängte die schlimmen Gedanken, wußte aber zugleich, daß sie sich in schreckliche Tatsachen verwandeln würden, wenn er die Decke zurückzog.
Er faßte dort an, wo sie etwas eingefallen war und auch dunkle Flecke bekommen hatte.
Cichon zitterte. Der Zipfel zwischen seinen Fingern war durch den Schweiß seiner Hand feucht geworden.
Dann zerrte er die Decke zurück -und war entsetzt!
***
Vor ihm lag Gerda, seine Frau!
Sie war tot, das sah er sofort. Sie schien entsetzlich gelitten zu haben, denn die Spuren einer grausamen Folter zeichneten sich in ihrem Gesicht ab.
Cichon wußte nicht, was er tun oder denken sollte. Er hielt die Decke noch immer fest. Das Gesicht, der Hals und ein Teil der rechten Schulter waren entblößt worden. Obwohl er
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