0933 - Der erste Erbfolger
antwortete Invo. »Morgen werden wir uns einen neuen Unterschlupf suchen.«
Zamorra fiel auf, dass der Raum nur sparsam eingerichtet war. Ein ungemütlich aussehendes Bett, ein einfacher Stuhl, ein Tisch mit schartiger Platte.
Von dem einstigen Wohlstand, der den Priester in seiner Wohnung über dem Tempel umgeben hatte, war nichts mehr zu sehen. Wie viele Jahre mochten seit der Erschaffung der Erbfolge vergangen sein?
Als hätte Jesof die Frage verstanden, sagte er: »Meinst du nicht, wir sollten Hysop endlich verlassen? Seit fünfzehn Jahren fliehen wir nun schon vor den Häschern des Zaer und doch verbergen wir uns ausgerechnet in der Stadt, über die er das Sagen hat. Vielleicht kämen wir woanders eher zur Ruhe. Oder lass uns den Städten ganz fernbleiben! In den Bergen oder in den Wäldern fänden wir auch unser Auskommen! Das wäre doch ein Leben! Vater und Sohn auf der Jagd, eins mit der Welt. Die Natur versorgt uns mit allem, was wir brauchen und…«
»Jesof! Stopp!«
Zamorra schlug sich die Hand vor den Mund.
Nein, verdammt noch mal! Das war Jesof! Jesof! Jesof! Nicht ich!
»Habe ich wieder geplappert? Entschuldige.«
»Wir haben schon so oft darüber gestritten. Aber meine Antwort bleibt die gleiche: Ich muss Aryen und seinen Sohn im Auge behalten! Ich kann nicht feige aus Hysop fliehen und die Welt ihrem Schicksal überlassen. Irgendwann wird sich eine Gelegenheit ergeben, alles wieder in Ordnung zu bringen. Und dann muss ich bereit und zur Stelle sein!« Er gab ein schicksalsschweres Seufzen von sich. »Ich hätte dir nie sagen sollen, dass du mein Sohn bist. Dann würdest du dich nicht für mich verantwortlich fühlen und hättest dich schon lange in Sicherheit gebracht.«
»Du hast dich dein Leben lang um mich gekümmert. Ich hätte dich nie im Stich gelassen, auch wenn du mir nicht die Wahrheit über dich und meine Mutter erzählt hättest. Deine Enttäuschung war groß genug, als Jurg dich verraten hat. Ich werde keine Enttäuschung für dich sein. Hätte Jurg dich nicht daran gehindert, das Balg zu töten, wären wir nicht in dieser Situation!«
»Hätte er mich nicht gehindert, wäre ich nun auch tot! Niemals hätten wir die Zeremonienhöhle lebend verlassen können, wenn ich Stracen erstochen hätte.«
»Wie auch immer! Nur seinetwegen herrscht nun Aryen über die Stadt. Nur seinetwegen darf er sich jetzt Zaer'hysop nennen. Hüter der Stadt! Was für ein beschämender Titel für einen Mann wie ihn. Aryen Zaer'hysop Chluhe'chlyn. Wie klangvoll! Wie lächerlich!«
Als Zamorra den Namen hörte, zuckte er in Ermangelung eines eigenen Körpers mental zusammen. Zaer'hysop Chluhe'chlyn. Saris ap Llewellyn. Die Ähnlichkeit im Klang war nicht zu überhören!
»Warum sagst du niemandem, was du über ihn weißt?«
Invo strich mit den Fingerspitzen über das Buch vor ihm und blickte Jesof traurig an. »Wem soll ich es sagen? Wem kann ich trauen? Die Menschen halten ihn für einen gerechten Herrscher, weil er auch Entscheidungen gegen den Rat durchsetzt, die vor allem das einfache Volk begünstigen. Sie lieben ihn, weil sie nicht erkennen, wie er sie manipuliert. Nein, wir sind auf uns gestellt!«
Mit einem heftigen Ruck drehte sich Jesof zurück zum Fenster. Dass die unvermutete, blitzschnelle Kamerafahrt nicht Zamorras Magen rebellieren ließ, lag ausschließlich daran, dass der Professor im Augenblick keinen besaß.
Und plötzlich - so klar, als handele es sich um seine eigenen Gedanken - schossen Zamorra Jesofs geheimste Pläne durch den Sinn.
Du brauchst nicht auf die richtige Gelegenheit warten, Vater! Ab morgen wirst du frei sein, zu gehen, wohin du willst. Die Flucht wird ein Ende haben'. Ich werde dafür sorgen. Heute noch!
»Du hast recht«, sagte er stattdessen. »Es war eine dumme Frage. Entschuldige.« Sein Blick glitt über die Stadt und blieb an einem Gebäude hängen, das so riesig und prachtvoll war, dass er es trotz der Entfernung von vielleicht fünf Kilometern gut sehen konnte: der Palast des Zaer! Zahlreiche gerade, geschwungene und spiralförmige Türmchen mit goldenen Spitzen zierten sein Dach.
Zamorra wusste sofort, dass er auf Jesofs Ziel schaute.
Der ehemalige Tempelbursche wandte sich wieder Invo zu. »Ich gehe noch etwas hinaus. Vielleicht…«
Plötzlich stand Jesof direkt vor dem Palast und starrte das prächtige Eingangstor an.
Was war denn jetzt los? Was war geschehen? Wie war er hierher gekommen?
Hatte er einen Filmriss gehabt?
Eine erschreckende
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