0935 - Aibons klagende Felsen
sich auf dem Wasser, das für die Frau zu einer hellen Fläche wurde, aus der sich jetzt etwas hervorreckte.
Waren es Hände, waren es Krallen, waren es nur Felsen? Vielleicht gehörten sie zu einer Insel, die plötzlich vom Grund des Meeres in die Höhe gedrückt worden war. Es waren nur Hände, Klauen oder klobige Stücke zu sehen, die allesamt alt wirkten. Köpfe mit Gesichtern entdeckte Joanna nicht.
Die Faszination der Veränderung glitt auch auf sie über. Es fiel ihr nicht leicht, den Kopf zu bewegen und sich umzuschauen. Der Herzschlag war überdeutlich zu spüren, ähnlich wie bei einem starken Angstgefühl. Aber Furcht verspürte sie noch immer nicht. Vielmehr ein großes Staunen über diese ungewöhnliche Veränderung. Sie war auch fasziniert. Es stellte sich für Joanna die Frage, ob sie sich noch in ihrer normalen Umgebung befand, die sie kannte. Wo ihre Höhle war, ihre Felsen, die so seltsam gesungen hatten.
Das blieb auch jetzt.
Ein unruhiges Singen. Etwas düster, hohl, aber nicht mehr so laut. Es zog sich auch zurück und war schließlich ganz verschwunden.
Joanna konzentrierte sich wieder auf sich selbst. Ich bin hier, dachte sie. Ich stehe hier. Ich sehe das Wasser. Ich sehe auch die Felsen. Aber ich sehe auch etwas anderes.
Damit meinte sie nicht die Strudel. Auch nicht die Gegenstände, die aus den Wellen hervorschauten; sie kam sich vor wie jemand, die in eine andere Welt hineingestellt worden war. Man hatte sie weggetragen, fortgeholt von ihrem Gestade, aber das konnte auch nicht stimmen, dann hätte sie bewegt werden müssen.
Sie hatte sich nicht bewegt, sie war stehengeblieben. Mit ihrer Umgebung war etwas geschehen. Sie war nicht mehr dieselbe.
Nicht mehr so grau sahen die Felsen aus. Sie hatten eine grünliche Farbe bekommen, ziemlich dunkel sogar, als wären sie mit Moosen und Flechten bedeckt. Dazwischen gab es auch graue Stellen, nie richtig glatt und ausgewaschen, sondern oft tief eingekerbt und gefräst. Die Steine kamen ihr vor wie zusammengewürfelt. Waren sie trotzdem gleichgeblieben, oder hatte sich nur das Licht verändert?
Das Wasser schäumte und umgurgelte die Ausläufer der Felsen.
Die Frau hob den Blick. Der Himmel über ihr sah aus wie ein düsteres Tuch. Wolken oder grünliche Nebel trieben über dem Wasser. Ein fahler Mond glotzte nieder wie ein unheimliches Auge.
Das Wasser rauschte mit leiseren Tönen heran. Es lief dicht vor ihren Füßen aus, wo es einen quirligen Schaumteppich bildete, auf dem die Blasen immer rasch wegplatzten.
Jenseits von Joannas Sichtbereich erhoben sich große Vögel träge in die Luft. Und ebenso träge flogen sie auch weiter. Die Schwingen leicht bewegend, das Gefieder gesträubt. Sie sahen aus wie künstliche Tiere, die ferngelenkt wurden.
Das Meer rauschte, war aufgewühlt. Aus der Tiefe rissen die Wellen etwas an die Oberfläche. Alte Stämme oder Zweige trieben über die Oberfläche und dem Ufer entgegen, prallten gegen die Felsen, wurden wieder zurückgezogen, aber einige von ihnen blieben schon in den Lücken liegen.
Bisher hatte Joanna nur auf dem Fleck gestanden und geschaut. Sie war zu überrascht gewesen und auch nicht in der Lage, selbst etwas zu unternehmen.
Bis sie etwas in ihrem Kopf spürte, das sie sich nicht erklären konnte. Es war keine Stimme. Es war mehr ein Druck, eine Lockung, eine sanfte Gewalt im Kopf.
Man wollte etwas von ihr.
Sie wußte nicht, wer dies sein könnte. Natürlich hatte sie sich Gedanken darüber gemacht. Nur war es unmöglich für sie, eine Lösung zu finden. Hier hatten die Gesetze der normalen Welt aufgehört zu existieren. Eine andere hatte sich darüber geschoben und diktierte alles.
Auch die Frau!
Der Drang in ihrem Kopf hatte sich verstärkt. Noch immer war es kein Befehl. Für sie war das Meer zu einem Magneten geworden, der sie einfach lockte.
Es gibt Selbstmörder, die in finsteren Nächten mit staksigen Schritten ins Wasser gehen, um sich umzubringen. Die einfach in einen See hineinlaufen, immer kleiner werden und irgendwann verschwunden sind.
So kam sich Joanna vor.
Da war der Drang zum Wasser, wie sie ihn nie zuvor gespürt hatte. Einfach hineingehen und dann verschwunden sein.
Es war ja nicht weit bis zum Wasser. Die wenigen, sie trennenden Schritte hatte sie bald hinter sich, und sie spürte sehr deutlich die Kühle und auch die Gischt, die gegen sie geschleudert wurde. Unzählige Perlen und Tropfen bildeten einen Schleier, die ihr manchmal einen Teil der Sicht
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