0935 - Aibons klagende Felsen
Spuren?«
Ich hob nur die Schultern, ging schon vor und duckte mich, um in die Behausung hineinkriechen zu können.
Es gab so etwas wie einen Eingang. Mehr ein Loch, und ich wunderte mich dann, daß ich mich in dieser kleinen Schutzhütte sogar aufrecht hinstellen konnte. In der sich anschließenden kleinen Höhle war das auch gerade so möglich.
Als Bill hineinschaute, sah ich sein Gesicht über mir. »Ho«, wunderte er sich. »Da scheinen wir ja genau richtig zu sein.«
»Bleib du draußen und halte die Augen offen.«
»Mach ich doch glatt.«
Zwar bestand das Dach nur aus Treibholz sowie gebogenen Ruten oder Zweigen, aber diese lagen doch eng beisammen, so daß sie ein ziemlich dichtes Dach bildeten, das vielleicht sogar Regen abhielt.
Daß dieser Unterschlupf bewohnt war, hatte ich schon beim ersten Blick festgestellt. Hier hatte nicht nur jemand auf der dicken, jetzt feuchten Decke gelegen, sondern auch gegessen und getrunken, denn in einem offenen Karton lagen die Reste eines Lebensmittelpakets zwischen leeren Wasser- und Coladosen.
Ich suchte nach Stricken oder Handschellen, wurde aber nicht fündig. Trotzdem stand für mich fest, daß wir Joanna Westwoods Versteck gefunden hatten. Der erste Schritt war getan. Jetzt brauchten wir nur den zweiten zu gehen, um die Frau zu entdecken.
Ich glaubte daran, daß sie sich ganz in der Nähe aufhielt. Hier war das Gebiet der klagenden oder singenden Felsen. Hier würde es auch die Spur nach Aibon geben, aber sie zu finden, war mehr als schwierig.
Jedenfalls nicht in dieser Behausung, die ich noch einmal durchsuchte. Ich hob auch die Decke an.
Es war nichts mehr zu finden, was auf die beiden Entführer hingedeutet hätte.
Trotzdem war mir die Hoffnung nicht genommen worden. Das erste Ziel war erreicht, das zweite würde folgen.
Ich wandte mich zum Eingang, um die Behausung zu verlassen. Als ich in die Höhe schaute und durch die Lücken des Vordachs peilte, da sah ich Bills Gestalt noch immer am selben Fleck. »He, ich komme jetzt zurück!« rief ich ihm zu.
Er beugte sich vor. »Hast du noch Spuren gefunden?«
»Nein.«
»Bei mir hat sich auch nichts getan. Wir sind wohl die einzigen hier zwischen den Felsen. Warte, ich werde dir das Tor öffnen«, sagte er lachend.
Er beugte sich ruckartig vor. Es war. Zufall, es war Glück, wie auch immer, denn genau in diesem Moment fielen die Schüsse…
***
Zeit, dachte Joanna, was ist schon Zeit?
Nichts mehr, überhaupt nichts. Zumindest nicht für eine Frau wie sie. Denn der Zeitbegriff war einfach aufgehoben worden. Vieles war anders geworden. Die Zeit lief in der fremden Welt nicht mehr so ab, wie sie es gewohnt war, doch sie hatte es sich ja so ausgesucht.
Noch immer dachte sie an die wundervolle Wandlung. Sie war in das Wasser gegangen, als wollte sie sich das Leben nehmen. Aber das Wasser hatte sie nicht zerstört, sondern sie umfangen. Nicht einmal mit feuchten Armen, dieses Gefühl war sehr bald verschwunden. Statt dessen war sie getragen worden. Hineingeweht in dieses andere Reich. Das grüne, beinahe gläserne Paradies, und sie hatte auch die Stimmen gehört. Sie waren fern gewesen und trotzdem nah. Man hatte sie begrüßt und sie als Retterin gefeiert.
Dabei hatte sie das Schwert gehalten, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. Es kam ihr vor wie ein Wunder, und sie hatte sich rasch an die neue Welt gewöhnt.
Herrlich war sie.
Düster zwar, aber für Joanna war sie zu einer Heimat geworden. Vielleicht war sie auch die eigentliche Heimat gewesen, wer konnte das schon sagen?
Dann hatte sie die Toten gesehen.
Die braunen und auch bleichen Skelette, die überall herumlagen. Menschen, die einmal gelebt hatten, die kämpfen mußten, wobei einige von ihnen noch ihre Waffen festhielten. Die knöchernen Klauen um die Griffe der alten Schwerter geklammert, und sie war über das Feld der Toten gewandert, begleitet von einem sanften Singen, das sie schon einmal gehört hatte.
Es war die Melodie der Felsen, und sie hörte sich in dieser Welt noch lauter an, noch intensiver. Der Gesang hallte in ihren Ohren. Aber die fürchtete sich nicht, weil sie einfach den Eindruck gewonnen hatte, wieder zu Hause zu sein.
Ich bin Joanna!
Des öfteren hatte sie diesen Satz wiederholt, ohne jedoch davon überzeugt zu sein.
Nein, sie war nicht mehr Joanna.
Oder war sie es doch?
Ein anderer Name hatte sich in ihr Bewußtsein geschoben. Zuerst nur zögernd, dann immer drängender, und als sie an einem
Weitere Kostenlose Bücher