0935 - Aibons klagende Felsen
bleich.
Ihre Finger zitterten schon, als die Kuppen über das Gebein hinwegstrichen. Sie wollte nicht tasten oder testen, nein, in diesem Augenblick wollte sie einfach nur zärtlich sein und auch Abschied von der Person nehmen, die sie einmal gewesen war.
Es war so einfach und trotzdem unbegreiflich, aber Joanna/Svenja stellte sich den Tatsachen.
Spürte sie die Verwandtschaft zwischen ihr und dem Skelett jetzt stärker, als sie den Schädel berührte?
Nein, da war nichts.
Aber sie wußte auch so genug. Sie würde sich ändern.
Jetzt und hier.
Aus Joanna sollte wieder Svenja werden, eine wilde Kämpferin. An Wunder wollte sie nicht glauben. Trotzdem kam es ihr wie ein Wunder vor, daß sie in der Nähe noch Kleidung sah, die der toten Svenja gehört haben mußte.
Sie war nicht zu Staub zerfallen. Es gab sie noch, zudem bestand sie nicht aus Stoff, sondern aus dickem Leder, das Joanna/Svenja jetzt vom Boden aufhob.
Die Frau hielt einen Umhang fest. Sie hatte das Schwert zur Seite gelegt und hielt ihn ausgebreitet vor ihren Körper. In ihrer modernen Kleidung kam sie sich deplaziert vor, und sie zog sich auf der Stelle aus.
Mit dem Ablegen der Kleidung streifte sie auch ihre Existenz ab. Sie wollte ihren Namen vergessen.
Sie war nicht mehr Joanna Westwood, sondern Svenja, die Wikingerfrau, die vor Hunderten von Jahren zusammen mit anderen aus ihrem Clan an der Südwestküste Englands gestrandet war.
Bis auf den Slip stand sie nackt zwischen den Gebeinen, schaute sich den Umhang noch einmal an, preßte ihn dann gegen ihr Gesicht, um den Geruch aus der Vergangenheit aufsaugen zu können. Sie suchte darin nach einem Hauch der damaligen Frau, aber die Feuchtigkeit hatte alles überlagert.
Am oberen Ende fand Svenja ein Lederband, das sie unter dem Hals zuschnüren konnte, wenn sie den Umhang um ihren Körper geschlungen hatte. Ein zweites Band fand sie in Höhe der Hüften, und sie stellte fest, daß ihr die Kleidung noch paßte. »Das ist ja ein Ding.«
Mit einer wilden Bewegung warf sie die Haare zurück. Dann schaute sie noch einmal auf das Skelett, wobei sie das Schwert in der rechten Hand hielt. »Du bist nicht tot, Svenja, nein, du bist nicht tot. Ich bin du, denn du bist in mir wiedergeboren worden. Das Schicksal hat uns wieder zusammengeführt, und ich fühle mich wohl.« Beinahe wäre sie den beiden Entführern schon dankbar gewesen, daß diese sie genau an den einsamen Ort von Cornwall gebracht hatten.
Die Botschaft hatte Svenja verstanden, und sie glaubte auch tief und fest daran.
Auf der Stelle wandte sie sich um. Sie war äußerlich noch dieselbe geblieben, aber ihr Inneres hatte sich verändert. Sie spürte die Kraft der Vergangenheit in sich hochsteigen, dieses wilde, kaum zu beschreibende Gefühl, das nur die Menschen erreicht, die auch bereit sind, als Kämpfer ihren Weg zu gehen.
Sie würde es tun.
Wie die Zukunft dabei aussah, das wußte sie nicht. Und ihr war auch unklar, ob sie dieses neue Land Aibon jemals wieder verlassen würde. Wenn nicht, war es auch nicht schlimm. In diesem Reich gab es für eine Kämpferin, wie sie es war, sicherlich viel zu tun, und auf diese neuen Aufgaben freute sie sich.
Mit einem anderen Gefühl als zuvor, betrat sie wieder das freie Deck. Sie schaute zum Himmel. Er lag hoch über ihr wie eine Wand aus grünem Glas.
Plötzlich liebte Svenja diese Welt.
***
Schüsse! Keine Täuschung. Und schnell hintereinander, als lägen zwei oder drei Schützen auf der Lauer, die mit automatischen Waffen feuerten. Wie schon erwähnt, es war Bills Glück, daß er sich so tief gebückt hatte, denn so jagten einige der Kugeln über ihn hinweg. Andere trafen die Felsen in der Umgebung, und sie jaulten als Querschläger davon.
Bill warf sich nach vorn - und brach ein.
Ich hatte mich nach den ersten Schüssen geduckt gemacht und war auch zurückgewichen. Mein Glück, denn sonst wäre Bill Conolly auf mich gefallen. So aber landete er neben mir, gemeinsam mit den Zweigen und Ästen, die das Dach gebildet hatten. Das gab es jetzt nicht mehr, denn über unseren Köpfen befand sich ein Loch.
Die Schüsse waren verstummt, und mein Freund sprach auch nur leise, während er sich unter den Zweigen vorsichtig bewegte.
Er kroch hervor. Ich sah zuerst sein Gesicht, in dem noch immer der Schreck zu lesen stand, aber auch das verzerrte Grinsen, das auf einen gesunden Zorn hinwies.
»Dumme Frage, Bill. Ist dir was passiert? Hat dich eine Kugel erwischt?«
»Nein.« Er kroch näher,
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