0936 - Schattentheater
hergestellte Seife genommen und sich damit gewaschen. Und sie hatte es nicht bereut: Sie fühlte sich seltsam entspannt und erfrischt.
Kaum saß Nicole bis zum Kinn in dem bestimmt über 40 Grad heißen Wasser, als sie schon fühlte, wie die Welt außerhalb des ryokans in weite Ferne zu rücken schien. Ich hätte mich durchsetzen und erst heute Abend baden sollen , dachte Nicole schläfrig und versuchte sich zu erinnern, ob sie in ihrem Reiseführer gelesen hatte, wie lange so ein Bad auf japanische Art dauerte. Na, eine Viertelstunde werde ich hier mal drin bleiben. Ich kann ja heute Abend noch einmal hineinhüpfen, damit Madame nicht schlecht über mich denkt , überlegte sie. Ich bin vom langen Flug offenbar doch müder als ich dachte, gut, dass ich mich gleich hinlegen kann.
Für einen Moment schreckte Nicole wieder hoch. Sie war doch glatt in eine Art Trance gefallen, denn der Geruch der feuchten Seife schien immer noch durchdringend in der Luft zu hängen. Schlafen. Eine schlechte Idee. Was, wenn sie wieder einen Albtraum hatte?
Unsinn. Sie konnte sich keine Gedanken darüber machen, nicht ständig. In diesem Moment erschien vor ihrem geistigen Auge die Sandbank in Ieyasus Garten. Sofort war Nicole wieder hellwach. Diese Sandbank war das exakte Ebenbild der lavaumspülten Landbrücke in ihrem Traum gewesen! Und angeblich gab es hier in Japan eine Landschaft, die genauso aussah!
»Was hat das alles nur zu bedeuten?«, murmelte sie halblaut und glitt ein wenig aus dem einlullenden, heißen Wasser heraus. Sie stützte ihr Kinn auf die Arme, die sie auf den Bottichrand gelegt hatte. Ihre Augen starrten, ohne etwas zu sehen, die mit einer Art Fresko in altjapanischem Stil angemalte Wand an. »Was soll das, dass ich von einer Landschaft träume, die es in hier in Japan ebenfalls gibt…«
Nicole überlegte noch eine Weile, doch sie kam nicht weiter. Es schien vorerst keine Lösung zu geben. Sie starrte die Wand an, auf der eine buddhistische Szene zu sehen war: spiralförmige Wolken, zwischen denen Götter im Kimono, mit Schwert und Pfeil und Bogen miteinander stritten. Ein Kampf, Gut gegen Böse. Nicole spürte, wie ihre Gedanken abdrifteten, ohne dass sie viel dagegen tun konnte - oder auch nur wollte. Sie folgten den endlosen Wolkenspiralen in ein zeitloses Land, in dem Götter und Dämonen um die Seelen der Menschen kämpften…
***
Ich bin hellwach. Erstaunlich. Das hätte ich nach dem Bad und dem tiefen Schlaf heute Nachmittag nicht vermutet. Ich hatte nicht einmal einen Albtraum!
Nicole sah auf die festlich geschmückte Bühne des Kokuritsu-Theaters und genoss die feierliche Atmosphäre. Sie fühlte sich allem gewachsen - sogar einem dreistündigen Stück in einer Form des Theaters, von der sie weniger als nichts verstand.
Die japanische Form zu baden muss ich mir merken , dachte sie zufrieden. Es scheint bei Stress wirklich zu helfen.
Und nicht nur deshalb wurde es weniger langweilig als erwartet. Zu ihrer Überraschung schien Minamoto gern bereit, ihr die Aufführung bis ins Kleinste zu erklären, damit sie auch die geringste Bewegung Ieyasus und seiner Künstler-Kollegen gut einordnen konnte. Erst hatte sie sich gewundert, dass sich Minamoto keinerlei Beschränkung auferlegte, während der Vorstellung mit ihr zu sprechen, doch auch das erklärte er ihr auf ihren irritierten Blick hin: Es würde Ieyasu und seine Kollegen nicht stören. Und so erläuterte Minamoto Nicole die Masken, die Gesten und die Kostüme des Nô-Theaters.
Wieder was gelernt! , dachte Nicole anschließend. Die Maske des Bösewichts war an der Stirn weiß, ein Hinweis darauf, dass es sich um die Fratze eines weiblichen Dämons handelte, das Rot auf dem Rest des Gesichts stellte wie die Reißzähne das Bedrohliche in der Figur dar. Und auch wenn die Masken der Mönche ungleich harmonischer wirkten und beinahe einer Frauenmaske glichen, wurden die der Dämonen laut Minamoto von den Kennern des Nô-Theaters höher geschätzt. Angeblich konnte ein Fachmann bereits an der Maske ablesen, um welches Stück und welche Rolle es sich handelte.
Die eifrige Erklärung ihres Mentors brachte Nicole auf eine Idee. »Minamoto-san, ich habe kürzlich in Paris eine Nô-Maske gesehen, ein ungemein schönes Exemplar«, meinte sie halblaut. »Sie war elfenbeinfarben, ein kleiner Mund mit voller Unterlippe und kleine Augenschlitze. Das Besondere an ihr war, dass sie dem Betrachter einen anderen Gesichtsausdruck zeigte, abhängig vom Blickwinkel.
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